Die Ostschweiz kritisiert die kriegsbedingte Zensur, die schlechte Lebensmittelversorgung und die Bürokratie in Liechtenstein


Bericht der „Ostschweiz“, gez. A. [1]

3.5.1917

Aus Liechtenstein

(Originalbericht)

A. In unserem kleinen Nachbarstaate werden die Folgeerscheinungen des Krieges auch verspürt, und zwar nach den verschiedensten Richtungen hin. Gleich zu Anfang des Krieges hat Österreich merkwürdigerweise die Zensur über alle von Feldkirch gelangenden Briefschaften eingeführt. Alle Schweizerpost nach Liechtenstein wird – was gewiss einzig in seiner Art dasteht – von Österreich über liechtensteinisches Staatsgebiet auf österreichischem Boden nach Feldkirch zur Zensur geführt und gelangt erst von dorther wieder nach Liechtenstein zurück. Alle aus Liechtenstein nach der Schweiz gelangende Post muss denselben Weg machen. Es lässt sich schwerlich das Recht begreifen, welches für die österreichische Zensurbehörde hier bestehen soll. Nach der zu Anfang des Krieges gegebenen Erklärung der Landesregierung soll nämlich der Nachbarstaat neutral sein. Diese Zensur ist eine Bresche in die Neutralität. Der seit längerer Zeit zwischen Österreich und Liechtenstein bestehende Postvertrag gibt zweifellos keine Handhabe dazu. Liechtenstein ist in Zollunion mit Österreich–Ungarn. Der Zollvertrag bietet aber keine Grundlage dafür, dass Österreich auf dieses neutrale Land seine für die Zeit und Verhältnisse des Krieges erlassenen Ausfuhrverbote auch auf Liechtenstein anwenden darf. Das geschieht aber. So können z.B. wegen Einfuhrverbotes die Liechtensteiner keine Schuhe aus der Schweiz beziehen, im Lande selbst sind keine erhältlich. Die Liechtensteiner müssen also von Amtes wegen ohne Schuhe sein, denn das gegen Ablieferung von Häute aus Österreich bezogene Leder deckt den Bedarf nicht. Im Volke empfindet man es schwer, dass die Regierung gegen diese sonderbare Vertragsauslegung beim österreichischen Vertragsteil nicht vorstellig werden und etwas mehr Rückgrat zeigen will.

Die gegenwärtige Heunot ist eine zum Teil selbstverschuldete, denn hätte die Behörde durch strickte Handhabung des Ausfuhrverbotes kein Heu mehr aus dem Lande hinausgelassen – es gab zu viele Bewilligungen –, so müsste das Vieh heute nicht Hunger leiden. Die nichtbäuerliche Bevölkerung muss jetzt unter der Not schwer leiden, es fehlt vor allem an Fett, Mehl, Brot und Kartoffeln. Im Herbst wurde zwar rechtzeitig auf Bestandesaufnahme dieser Lebensmittel gedrungen. Der meist aus bäuerlichen Mitgliedern zusammengesetzte Landtag, wie auch die Regierung gaben schliesslich den bezüglichen Anregungen nur mit Widerwillen nach. Die getroffenen Massnahmen reichen leider nicht hin. Obwohl Mangel im Lande herrscht, werden Kartoffeln, Butter, Käse und andere notwendige Bedarfsartikel zu Wucherpreisen nach Vorarlberg ausgeführt. Leider drückt die Behörde oft beide Augen zu –, die nicht Landwirtschaft treibende Bevölkerung aber leidet Not. Die Politik des Systems „von einem Tag zum andern leben“ hat hier völlig versagt.

Der neue Regierungschef [Leopold von Imhof] versteht offenbar die Seele des Liechtensteiner Volkes noch nicht. Wer etwa am Sonntag Gelegenheit hat, mit den Liechtensteinern darüber zu reden, muss über die oftmals drastischen Äusserungen nur staunen. Ein Bauer sagte uns offen heraus, der Regierungschef fühle noch zu stark das Blut eines österreichischen Ministerialsekretärs in sich fliessen, denn seine „Massnahmen“ seien doch oftmals mehr für das Bureau als für das praktische Leben berechnet. Wie bureaukratisch in diesem kleinen Staat übrigens noch regiert wird, ersieht man daraus, dass der Regierungschef und ein Sekretär nur je Mittwochs und Samstags zu sprechen sind. Kommen in den übrigen Tagen Leute, die ihr Anliegen bei der Staatsregierung oder dem Staatsschreiber vorbringen wollen, so werden sie ziemlich barsch von der Türe gewiesen. Es ist erstaunlich, dass sich diese Personen bei diesen schweren Zeiten so zurückziehen dürfen. Mancher Regierungsrat wird sie darum beneiden!

In Liechtenstein hat man sich übrigens die Notstandsmassnahmen ziemlich leicht gemacht. Zuerst musste eine Landesnotstandskommission über die einzelnen Vorkehrungen beraten, dann aber befolgte man das Abladesystem. Es wurden Gemeinde-Notstandskommissionen zur Entlastung der Landeskommission geschaffen, die Verantwortlichkeit zersplittert und – den Notleidenden leider nicht mehr als früher geholfen.

Dem kleinen Lande ist eine gesunde Weiterentwicklung zu gönnen. Dazu bedarf es aber führender praktischer Männer, die nicht immer am Alten hängen. Notwendig ist auch, dass etwas mehr demokratisch verfahren werde. Beides wünschen wir ihm von Herzen!

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[1] Die Ostschweiz vom 3.5.1917, Nr. 117. LI LA SgZs 1917.