Zeitungsbericht, nicht gez. [1]
24.2.1923
Auswanderungsfragen.
(Korrespondenz).
Die Wirtschaftskrise, eine Folge des Weltkrieges, beeinträchtigt noch immer in ihrer ganzen Grösse die Existenzmöglichkeit der Arbeiter und der Landwirtschaft; denn grosse Arbeitslosigkeit einerseits für die Arbeiten, niedere Viehpreise anderseits für die Landwirtschaft, macht eine nur annähernd normale Lebensweise für ein Grossteil unserer Landesbewohner zur Unmöglichkeit. Es wird voraussichtlich noch lange dauern, bis eine Besserung der Wirtschaftslage eintreten wird. Es wird somit notwendig werden, dass ein beträchtlicher Teil unserer Landesbewohner ihre Existenz im Auslande suchen müssen. Da stellt sich mancher die Frage, wohin wende ich mich, in welchem Lande will ich mein Glück suchen! Am liebsten würden wohl die meisten in die benachbarte Schweiz auswandern, doch dort herrscht selbst grosse Arbeitslosigkeit, und es wird auch in diesem Jahre nur ein kleiner Teil unserer Bauarbeiter und Dienstmädchen Arbeit finden. Die meisten anderen umliegenden Staaten kommen [auf] Grund ihrer schlechten Valuten bei der Auswanderung nicht in Frage, einzig für Frankreich besteht noch einige Hoffnung für unsere Bauarbeiter, dort lohnende Arbeit zu finden, doch scheint auch diese Hoffnung, wie uns zurzeit die Ruhrbesetzung lehrt, an einem dünnen Faden zu hangen. Es wird also wahrscheinlich notwendig werden, wenn einer unserer Landesbewohner eine Existenzmöglichkeit erhalten will, dieselbe in fremden Erdteilen zu suchen. Dass dieses eine sehr heikle Sache ist, ist uns zur Genüge bekannt. Es wäre nun zu prüfen, ob es nicht zweckmässig wäre, dass alle die jungen Landesbewohner, welche beabsichtigen in fremde Lande zu reisen, zur Gründung eines Auswanderungsvereines, wie solche bereits in allen anderen Staaten bestehen, schreiten würden. Der Zweck und die Aufgaben eines solchen Vereines könnten etwa folgende sein:
1. Sich nach Siedlungsgelegenheiten in Europa und überseeischen Ländern zu erkundigen und über solche jedem einzelnen Vereinsmitgliede schriftlich oder mündlich Bericht zu erstatten.
2. Mit Auswanderungsvereinen anderer Länder in Verbindung zu treten, um von denselben die Auswanderung betreffende Auskünfte zu erhalten.
3. Arbeitssuchenden nach Europa und überseeischen Ländern Stellen zu vermitteln.
4. Siedlungsunternehmungen in fremden Staaten amtlich prüfen zu lassen, Kolonisationspläne den Landesbehörden zur Genehmigung und eventuellen Subventionierung zu unterbreiten, und zwecks Ausführung solcher Projekte mit Banken, Gesellschaften und Privaten in Verbindung zu treten.
5. Personen, welche sich in fremden Erdteilen ansiedeln möchten, auf ihre zukünftige Tätigkeit vorzubereiten (und anderes mehr).
Es würde mich sehr interessieren, über diese aufgeworfene Frage in der Presse weiteres zu vernehmen.
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[1] L.Vo. 24.2.1923, S. 1.