Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. Elias Wille[1]
17.5.1907
Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.
(Erzählt von Elias Willi.)
(Schluss)
In diesen belebteren Gegenden bekamen wir auch Tiere zu Gesicht, die wir im zoologischen Garten in Basel gesehen, Herden kanadischer Schafe. Diese sind viel grösser wie die unserer Heimat und auch im Körperbau so sehr von diesen abweichend, dass man sie kaum als Schafe erkennen kann. Acht Uhr abends trafen wir bei strömendem Regen in Montreal ein. Vor unserer Abreise in Basel hatten wir uns Schriftchen über Kanada geben lassen, betitelt: Kanada und seine Provinzen, das Land der Zukunft. Dieses Büchlein bietet nebst der Beschreibung des Landes, seiner Verhältnisse, Beschaffenheit und Einteilung viele nützliche Winke für den Einwanderer. Da ist denn auch angezeigt, dass denselben in den verschiedenen Häfen oder Grenzstädten Emigrationshallen frei zur Verfügung stehen, bis sie sich Beschäftigung und damit ein anderes Logis gefunden haben.
Also erkundigten wir uns nach der Emigrationshalle. Diese ist am Bahnhof selbst, einige Treppen hinunter, im Erdgeschoss. Wohl mehr wie hundert bezopfte Chinesen waren hier interniert, lagen ausgestreckt auf blosser Erde und grinsten uns ganz verwundert an; solche Bekanntschaft mochte ihnen wohl ungewohnt vorkommen, indess sehnten wir uns ebenso wenig nach den bezopften Söhnen des himmlischen Reiches und räumten schleunigst das Feld, uns ein gastlicheres Nachtquartier aufsuchend. Montreal ist die grösste und industriereichste Stadt Kanadas, von ungefähr 130,000 Einwohnern, ebenfalls am Lorenzo gelegen und Haupthafenstadt. Sitz der Regierung ist indess nicht Montreal, sondern Ottawa in der Provinz Ontario. Mehrere Tage weilten wir in Montreal, unschlüssig, was beginnen; Arbeit wurde uns in Fülle angeboten, als Eisenbahn-, Kanal-, Kohlenminen-, Fabrik- und Farmarbeiter. Unser Sehnen richtete sich aber nach wie vor nach den Vereinigten Staaten, ein gewisser Ehrgeiz stachelte uns immer wieder auf, doch noch das uns einmal gesteckte Reiseziel zu erreichen. Wie aber den verfahrenen Karren aus dem Kot ziehen?
Erst versuchten wir es, auf rechtliche Weise ins Land zu gelangen und begaben uns eines Morgens auf das „Vereinigte Staaten Einwanderungsbureau". Wir hatten aber entschieden Pech. Um die Beamten über eine mögliche Identifizierung hinwegzutäuschen, gaben wir fingierte Namen, diese wurden aber schön sauber auf ein Blatt Papier notiert und wir damit auf das „Allan-Line-Bureau" beordert, die Bestätigung unserer Angaben zu holen. Im Schiffsregister aber waren die richtigen Namen verzeichnet. Dem war nun zwar zu helfen; wir hatten bald den Zettel verloren und gingen auf das Einwanderungsbureau zurück, uns einen neuen zu holen in der Voraussetzung, der Beamte hätte im Drang der Geschäfte unsere Namen vergessen. Diese Voraussetzung bestätigte sich auch, wir konnten jetzt die Bestätigung unserer Aussagen holen.
Nun aber kam was anderes, das uns weniger in den Kram passte, nämlich das New-Yorker Deportationssystem. Dieser Umstand rief uns lebhaft die Mahnung des deutschen Agenten von Ellis Island ins Gedächtnis zurück: Ihr werdet in den verschiedenen Häfen signalisiert und da könnte Euch wieder was Dummes passieren. Das Dumme wollten wir aber nicht noch einmal riskieren; zum Glück waren noch mehrere Italiener anwesend, wir konnten uns unauffällig entfernen. Andern Tages lösten wir Billets bis St. Armand an der Grenze, im benachbarten Philippsburg für einige Tage Arbeit nehmend. Angelegentlich erkundigten wir uns nach der Gegend und eines schönen Abends machten wir uns auf den Weg, in der angegebenen Richtung zu versuchen, in das Land unserer Hoffnungen zu gelangen, wenn auch auf ungesetzlichen Wegen. Unsere Koffer liessen wir stehen; das hatte wenigstens das Gute an sich, dass wir der lästigen Gesellen los wurden, die sich in unsre Kleider eingebürgert. Stets die Landstrasse innehaltend, wenn man den kotigen, holperigen Fahrweg so nennen darf, erreichten wir um Mitternacht das amerikanische Grenzstädtchen Swanton. Dieses war wie ausgestorben, kein menschliches Wesen begegnete uns, um so besser. Von hier aus liefen wir über den Schienenstrang der Strassenbahn, die nach St. Alban führt. Morgens um 5 Uhr langten wir nach zurückgelegtem achtstündigem Marsche hundemüde und kotbespritzt in St. Alban an. Schon in Montreal wurde uns Albany, im Staat New-York, als geeignetes Feld für Einwanderer angeraten wegen seiner reichen Industrie. Diesen Wink beachtend, lösten wir Billets nach Albany. Der Beamte am Schalter musterte uns misstrauisch, wohl in Folge unseres etwas verdächtigen Wesens. Was wollt Ihr denn in Albany? Wir gaben vor, wir hätten Verwandte dort, die wir besuchen wollten. Geglaubt aber hats uns der gute Alte nicht, das konnten wir in seinen Mienen lesen. Dessen Misstrauen hatte auch unser Misstrauen erweckt.
Während der Fahrt liessen wir die Billets vom Kondukteur nach New-York umschreiben, von Windsor aus eine andere Linie nehmend. Die Landschaft, die wir nun durchfuhren, zeigte ein wesentlich anderes Bild, wie diejenige Kanadas; nicht bloss, dass sie weiter vorgeschritten war in der Natur, auch von Spuren so junger Kultur war nichts mehr zu finden. Städtchen auf Städtchen folgte, verschieden in Grösse, aber alle im selben geschmackvollen, neueren Stil erbaut, weniger in kompakter Masse, als in Gruppen geordnet, durch Anlagen und freie Plätze geschieden. Fast kein Haus ist ohne Veranda. Breite, schnurgerade, asphaltgepflasterte Strassen prachtvolle Alleen bildend, kennzeichnen diese Städte als Städte noch jüngeren Datums. In einer dieser Städte, in Springfield, Staat Massasuchets [!] stiegen wir aus, für den folgenden Tag dort verweilend. Länger hatten wir aber keine Zeit zu verlieren, die Billets hatten nur bis folgende Mitternacht Gültigkeit.
Mit dem ersten Abendzug setzten wir die Reise fort, um elf Uhr nachts in New-York ankommend. Da wären wir jetzt wieder in der Patsche gesessen — Mitternacht, in der Weltstadt New-York, unbekannt und der Sprache des Landes nicht mächtig! Doch da kam uns der Zufall zu Hilfe. In New-Haven „Conektikut" war ein älterer Herr in unser Koupee eingestiegen und hatte sich uns gegenüber gesetzt. Während der Fahrt unterhielten wir uns verschiedentlich, natürlich im heimatlichen Dialekt. „Sind er Schwitzer Buaba“, wandte der Herr sich ganz unvermittelt an uns. „Jo, mer sind Schwitzer." — „Woher?" — ,,Usm St. Galler Oberland." — „ I bi au ä Schwitzer, ä Züribieter; wo wänd er hie?" - „Uf Pittsburg." - „Do müänd er aber z Nü Jork übernachtä, der Zug hätt kei Verbindig." Wir hatten also unser Vaterland verleugnet, hoffen aber, es sei uns vergeben. Der biedere Züribieter nahm sich in verdankenswertester Weise unser an, löste einige Billets und führte uns einige gewundene Treppen hinunter zur New-Yorker Untergrundbahn. Eine grosse Strecke fuhren wir unter der Stadt dahin und kamen wieder auf einem Bahnhof an die Oberfläche. Unser Begleiter führte uns noch auf eine Strasse, die zum-Hafen führt und gab uns Weisung für einen deutschen Gasthof. Nachdem wir uns gebührend bedankt, verabschiedeten wir uns, den empfohlenen Gasthof aufzusuchen.
Den folgenden Tag, es war der 29. Juni, verbrachten wir in New-York. Da hatten wir nun die Genugtuung, von derselben Stelle aus, nach der wir so oft mit heisser Sehnsucht ausgeschaut, nach Ellis Island hinüber zu schauen, vom Pennsilvania Bahnhof aus. Unsere Billets kauften wir auf einer „Ticket Offize" der Stadt, von der Baltimore-Ohio Line. Auf dem Weg zu dieser Offize kamen wir gerade recht, um zu sehen, wie ein Neger einen andern im Streite auf offener Strasse totgeschossen. Das ist nun in New-York etwas Alltägliches; auf uns aber machte es einen widrigen Eindruck, wir hatten genug vom New-Yorker Stadtbild. Sieben Uhr abends verliessen wir New-York und morgens um 9 Uhr trafen wir, nach vielem erlittenen Ungemach und zwei Monate später als in unserem ursprünglichen Plan gelegen, doch wohlbehalten und zufrieden, unser Ziel erreicht zu haben, in Pittsburg ein.
Nun Gott befohlen!