Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez.Elias Wille[1]
3.5.1907
Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.
(Erzählt von Elias Wille.)
(Fortsetzung.)
Ehe wir in den „la gare l'est", den Pariser Ostbahnhof, einfuhren, hatten wir das Vergnügen, über eine der Vorstädte hinwegzufahren, auf die Häuser und Strassen derselben hinunterzusehen. Am Bahnhof hatten sich eine Menge Droschken eingefunden, die Passagiere in die verschiedenen Absteigquartier wegfahrend. Auch für uns kam eine solche angerollt: „Canada, Emigrant, Canada!" rief der Kutscher vom Bock herunter. Wir wurden nun durch mehrere Strassen der Stadt nach dem Hotel „Canada" gefahren. Da konnten wir uns jetzt ein Stück Pariser Strassenleben mitansehen.
Es bedarf einer geübten Hand, ein Gefährt sicher durch dieses Chaos von Fuhrwerken, Automobils, Strassenbahnen hindurchzuarbeiten, sowie durch die Menge der Passanten. Alle Augenblicke hielt unsere Droschke oder wurde von einem andern Gefährt gestreift. Vier Stunden weilten wir in der Hauptstadt der Franzosen; alsdann hiess es wieder vorwärts, hinweg über die Seine, ab nach Havre vom nahe gelegenen „la gare lessair“ [2], Bahnhof „Lazaret" aus. Fast hätten wir uns auf der Suche nach dem Bahnhof, den wir ohne Begleitung, nur auf Anweisung des Hotelbesitzers aufsuchten, verloren und den Zug versäumt; es ist eben eine heikle Sache, sich in einer Grossstadt zurecht zu finden, zumal wenn man die Sprache des Landes nicht versteht. Dies mussten wir noch öfter erfahren.
Die Gegend Paris-Havre ist die dunkelste in meiner Erinnerung, weil ich die meiste Zeit während dieser Fahrt verschlafen habe; ich weiss nur, dass wir durch sehr weinreiche Gelände kamen. Fünf Uhr abends trafen wir in Rouen, 7 Uhr in Havre ein. Wir waren im Hotel „Suisse" angemeldet, für die folgenden 3 Tage daselbst Verpflegung zu nehmen, da unser Dampfer erst am 4. Juni ab Havre fällig war. Havre lehnt sich an eine Hügelkette an, oder ist vielmehr grossenteils auf den Höhen erbaut und bietet einen interessanten Anblick, wie auch prächtigen Ausblick auf die See. Das Weichbild der Stadt gestaltet sich grundverschieden zu den Aussenvierteln; während ersteres aus lauter palastartigen Gebäuden, Parkanlagen, schönen, breiten Boulevards sich bildet, sind letztere reich an dunkeln, engen, schmutzigen Gassen und ebenso schmutzigen Gebäuden. Auf der Seeseite ist Havre befestigt. Zum erstenmal sahen wir hier ein Kriegsschiff, ein französisches Torpedoboot.
Unser Aufenthalt in Havre erstreckte sich gerade über die Pfingstfeiertage; eine Masse von Karussells, Schiessbuden, Panoramas usw. hatte sich für diese Gelegenheit am Quai aufgepflanzt, selbst am hohen Pfingsttage ihre Sehenswürdigkeiten und Tätigkeiten entfaltend. Eine schreiende und johlende Menschenmasse drängte sich beständig in und um diese Vergnügungsobjekte herum — französische Pfingstfeier!
Pfingstmontag nachmittags wurden wir eingeschifft, zuvor natürlich wieder ärztlich untersucht. Sechs von den einigen Hundert Passagieren für Kanada wurden in Havre zurückgehalten. Der Dampfer, der eigentlich für die Fahrt bestimmt war, lag reparaturbedürftig in den Docks von London; an dessen Stelle fuhr der „Sarmatian", ein alter, morscher Kasten, nur provisorisch für den Passagierdienst eingerichtet; auf der Rückreise wurde dessen Einrichtung wieder zusammengeschlagen und der „Sarmatian" als Transportdampfer verwendet.
Hatten sich die ersten beiden Seereisen günstig gestaltet, hätten wir diese dritte kaum ungünstiger treffen können. Gleich von Anfang stellte sich ein dichter Nebel ein, dass wir kaum die englische Küste, die der „Sarmatian" nahe passierte, sehen konnten. Doch damit war es nicht genug. Als hätte die See Versäumtes nachzuholen, sich für die gepflegte Ruhe zu entschädigen, brach das Ungemach über uns herein. Am 9. Juni entfesselte sich ein Sturm, der volle achtundvierzig Stunden in ungeschwächter Stärke anhielt. Am dritten Morgen liess der Sturm nach: die See schien sich ausgetobt zu haben; so schien es wenigstens. Ein trügerisches Element das Meer! Wir Passagiere, die wir uns dieser Hoffnung hingegeben, hatten uns gründlich getäuscht; da waren die Seeleute klüger und trafen beizeiten Vorsichtsmassregeln. Sie hatten sich nur ausgeruht, die wütenden Elemente, um nächsten Tages mit doppelter Heftigkeit über den „Sarmatian“ herzufallen. Zwar hatte der „Sarmatian" sich verankert, wurde aber dessenungeachtet bald auf diese, bald auf jene Seite geschleudert, krachte wirklich in allen Fugen; hoch über Deck schlugen die Wellen zusammen, das Wasser schoss die Treppen zu den Zwischendeckräumen hinunter und wieder durch die Ventilationsvorrichtungen fort; aus den untern Räumen, wo das Frachtgut aufgespeichert lag, erscholl es wie das ferne Rollen des Donners; alles, was nicht niet- und nagelfest, wurde durcheinander geworfen, die Essgeschirre, von den Schränken gestürzt, gingen zu Dutzenden kaput; „es kleparat, es ischt a Fröd" meinte einer, dem der Humor noch über die Knie reichte; die wenigsten der Passagiere aber verfügten noch über diese Gottesgabe; Schreck und Bestürzung malten sich deutlich in den Mienen besonders der weiblichen Passagiere. Mit dem Heulen des Sturmes um die Wette erschollen immer wieder alle paar Minuten die schauerlichen, mark- und beinerschütternden Warnsignale des Nebelhorns und immer toller noch gebärdete sich der schlimme Patron.
Die folgende Nacht stellte der „Sarmatian" die Fahrt ein, volle vierzehn Stunden in der aufgeregten Flut stehen bleibend. An Schlaf war unter solchen Umständen natürlich nicht zu denken; wir hatten Mühe, uns in den Betten zu behaupten; deren, die weniger feste Position gefasst und infolgedessen unsanft aus ihren Pritschen herausgeschmissen wurden, gabs nicht wenige. War Essenszeit, mussten wir uns an den Wänden halten, um zu Tische zu gelangen, wollten wir nicht vorn- oder hintenüber Purzelbaum schlagen, und oft genug rollten Schüsseln und Teller samt Inhalt über den Tisch davon. Ich kann Dir versichern, lieber Leser, etwas Angenehmes ist es nicht um solch einen Sturm auf dem Meere; nicht bloss, dass die ganze Schiffsordnung zu „unterobst“ gekehrt und die Passagiere in Angst und Schreck versetzt werden, auch die Seekrankheit tritt mit erneuter Heftigkeit auf. Endlich, am Morgen des 13. Juni, liess der Sturm nach; der „Sarmatian" nahm die Fahrt wieder auf.
(Fortsetzung folgt.)