Der Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt Oswald von Richthofen konstatiert, dass die Beziehungen zwischen Liechtenstein und Preussen "die besten und freundschaftlichsten seien"


Handschriftliches Schreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin, Ladislaus von Szögyény-Marich, gez. ders., an den österreichisch-ungarischen Aussenminister Agenor von Goluchowski [1]

29.11.1900, Berlin

Hochgeborener Graf

Das hohe Schreiben vom 14. d. M. habe ich zu erhalten die Ehre gehabt. [2] In Befolgung desselben habe ich den Staatsekretär im Auswärtigen Amte [Oswald von Richthofen] ungesäumt von dem Wunsche Seiner Durchlaucht des regierenden Fürsten [Johann II.] von Liechtenstein nach einer formellen Regelung der Beziehungen Seines Fürstenthumes zum Königreich Preussen in Kenntnis gesetzt, und hiebei alle jene Gesichtspunkte verwerthet, welche Euer Excellenz mir zur Verfügung zu stellen die Güte hatten.

Freiherr von Richthofen theilt vollkommen die Auffassung Euer Excellenz, wonach von einem Kriegszustande zwischen Preussen und dem Fürstenthume Liechtenstein absolut nicht die Rede sein könne, was ja durch die auch Seitens Euer Excellenz erwähnten Argumente, - wie den Beitritt Liechtenstein‘s zu verschiedenen Verträgen, bei welchen Preussen als Compaciscent erscheint, ferner die Belehnung des Fürstenthumes mit dem preussischen Antheile der Fürstenthümer Troppau und Jägerndorf u.s.w. - zur Evidenz hervorgeht. Im Gegentheil könne constatirt werden, dass die Beziehungen zwischen den beiden Souveränen die besten und freundschaftlichsten seien.

Der Herr Staatssekretär hob ferner hervor, dass auch kein ernsthaft denkender Mensch die Fabel eines Kriegszustandes zwischen Preussen und Liechtenstein aufrecht erhalten könne. Seines Wissens, fügte Freiherr von Richthofen scherzend hinzu, sei es auch höchstens der "Kladerradatsch", [3] der sich ab und zu den Anschein gebe, daran zu glauben, um dadurch Gelegenheit zu einem schlechten Witz zu finden. Die diesbezüglichen Ausführungen des "Leipziger Grenzboten", [4] welches Blatt übrigens ihm gar nicht bekannt sei, hält Freiherr von Richthofen nicht der geringsten Beachtung würdig.

Was die Seitens Euer Excellenz, gleichfalls berührte Frage anbelangt, in welcher Form der in Rede stehenden irrigen Anschauung, welche nach hiesiger Auffassung eigentlich nirgends existirt, entgegengetreten werden könnte, so äusserte sich der Staats-Sekretär dahin, dass es ihm nicht leicht scheine, einen passenden Modus hiefür zu finden, und dass es ihm namentlich nicht klar sei, wie es möglich wäre, eine noch deutlichere Emanation Platz greifen zu lassen, als dies ohnehin seinerzeit durch die Belehnung mit dem preussischen Antheil der Fürstenthümer Troppau und Jägerndorf erfolgt ist. [5]

Die Anbahnung eines Austausches von Notificationen von Familien- und Staatsereignissen zwischen Preussen und Liechtenstein dürfte nach der Meinung Baron Richthofens aus dem Grunde auf Schwierigkeiten stossen, weil derartige Notificationen seines Wissens preussischerseits nicht einmal an alle deutschen Bundesfürsten, sondern nur an die königlichen und grossherzoglichen Häuser ergehen. Trotzdem versprach mir der Staats-Sekretär, diese Frage im Auge behalten und bei sich ergebender Gelegenheit auf dieselbe zurückkommen zu wollen. [6]

Genehmigen Euer Excellenz den Ausdruck meiner Ehrfurcht. [7]

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[1] AT ÖStA, HHStA, Ministerium des Äussern, Administrative Registratur F2, Fremde Souveraine, Staaten, Karton 53, Liechtenstein (Aktenzeichen des Ministeriums: ad No. 63805/7 1900) bzw. als Kopie unter LI LA SgK 017. Briefkopf: "Österreichisch-ungarische Botschaft". Gemäss handschriftlichem Vermerk im Ministerium wurde der fürstlich-liechtensteinische Hofkanzleileiter Hermann von Hampe vom vorliegenden Schreiben auf kurzem Wege durch vertrauliche Überlassung einer Abschrift in Kenntnis gesetzt. Die Angelegenheit wurde von Ministerialrat Franz Riedl von Riedenau im Dezember 1900 (vorerst) ad acta gelegt. 
[2] Ebd.
[3] "Kladderadatsch": Berliner Satirezeitschrift (1848-1944).
[4] Der betreffende Artikel im "Leipziger Grenzboten" vom 16.8.1900 wurde später in der Wiener "Deutschen Zeitung" abgedruckt (Nr. 10331, 5.10.1900, S. 3-4 ("Aus dem kleinsten deutschen Land")).
[5] LI LA SgK 019.
[6] Randvermerk: "Wie verhält sich die Sache zu Monaco?"
[7] Vgl. in weiterer Folge das Dankschreiben von Hermann von Hampe namens des Fürsten Johann II. an das k.u.k. Aussenministerium vom 16.1.1901 (AT ÖStA, HHStA, Ministerium des Äussern, Administrative Registratur F2, Fremde Souveraine, Staaten, Karton 53, Liechtenstein bzw. als Kopie unter LI LA SgK 017). Gemäss dem Schreiben des k.u.k. Aussenministeriums an Botschafter Szögyény-Marich vom 20.1.1901 sollte auf Wunsch des liechtensteinischen Fürsten die Anbahnung des Austausches von Notifikationen über Hof- und Familienereignisse zwischen Liechtenstein und Preussen nicht weiter verfolgt werden (ebd.).