In den „Oberrheinischen Nachrichten“ wird der vom Liechtensteinischen Arbeiterverband beschlossene Anschluss der liechtensteinischen Bauarbeiter an die schweizerische Bauarbeitergewerkschaft verteidigt


Veröffentlichung einer Einsendung in den „Oberrheinischen Nachrichten“ [1]

20.10.1920

Zur Arbeiterbewegung

(Eingesandt)

Die Organisation der Arbeiter ist in ein recht akutes Stadium getreten. Nicht nur verkünden dies die von Zeit zu Zeit abgehaltenen Arbeiterversammlungen, sondern auch die in den Blättern und am letzten Sonntag sogar in den Kirchen gehaltenen Ansprachen und angesagten Versammlungen. Die einen unter der Führung der hochw. Geistlichkeit wollen einen christlichsozialen Arbeiterverband mit Anschluss an den schweiz. christlichsozialen Arbeiterverband. Es wurden den liechtensteinischen Arbeitern das im allgemeinen recht schöne Bettagsmandat der schweizerischen Bischöfe, [2] die sich darin mit dem Sozialismus und der sozialistisch orientierten Arbeiterschaft auseinandersetzen, entgegengehalten.

Andererseits hat sich der liechtensteinische Arbeiterverband auf neutralem Boden aufgebaut, wie dies bei der Gründungsversammlung [3] meines Wissens selbst von dem inzwischen ausgeschiedenen Verbandspräsidenten [Friedrich Kaufmann] gefordert wurde. Unlängst haben nun die einzelnen Sektionen aus schwerwiegenden Gründen sich entschlossen, die Bauarbeiter der schweizerischen Bauarbeitergewerkschaft anzuschliessen. Diese Organisation soll nach dem Referate eines Sekretärs Mitglieder aller Konfessionen aufnehmen, sich überhaupt nur mit wirtschaftlichen, hauptsächlich Lohnfragen, befassen. Soweit ihre Mitglieder Schweizer sind, sind sie meines Wissens zum Teil politisch sozialistisch gefärbt. Das will nun aber nicht besagen, dass alle an die Moskauer Internationale [Kommunistische Internationale] sich anschliessen wollen, noch wahrscheinlich werden. Denn auch über dem Rheine drüben sind die gemässigten Elemente von jenen schärferer Richtung zu unterscheiden. Der jetzt in Neuenburg tagende Gewerkschaftskongress und die dort von den einzelnen Gewerkschaften gestellten Anträge lassen dies zur Genüge erkennen. Jedenfalls verraten die in dieser Hinsicht von einem hiesigen Blatte gemachten, wenn auch redaktionell noch etwas abgetönten Bemerkungen keine Fachkenntnis. Sie wären besser nicht geschrieben worden, denn die hieran geknüpften Folgen für die liechtensteinischen Arbeiter sind teilweise glatte Erfindungen.

Von einer grundsätzlichen Würdigung des liechtensteinischen Arbeiterverbandes und seines Beschlusses, dass sich die Bauarbeiter dem nicht-christlichsozialen Bauarbeiterverband (der Gewerkschaft) anschliessen wollen, will ich hier ausdrücklich absehen. Mir scheint die Sache noch zu wenig abgeklärt, als dass man ein derartiges Vorgehen, wie es von einigen Herren leider hervorgerufen, rechtfertigen kann. Das Kind sollte unbedingt nicht mit dem Bad ausgeschüttet werden. Auf diese Weise entzweit man wohl, einigt aber nicht. Wenn auch beiderseits etwas zu viel gesprochen worden ist, so ist das eine Erscheinung in der Hitze des Kampfes. Dieses Blatt steht auf dem Boden katholischer Weltanschauung und die Volkspartei nennt sich christlichsozial. Erinnert man sich denn auf gegnerischer Seite nicht, mit welchem Spott und Hohn man seinerzeit über dieses Wort herfiel, und von ihm, weil sich eine Partei [Christlich-soziale Volkspartei] auf Grundlage ein Programm [4] gab, nichts wissen wollte? Heute aber ruft man einer christlichsozialen Organisation, die früher verdammt wurde. Diese Folgerichtigkeit mag verstehen wer will, jedenfalls verstehen sie die intelligenteren unter den Arbeitern nicht und sie werden heute das Gegenteil noch viel weniger verstehen. Die Liebe zu den Arbeitern ist noch zu jungen Datums, als dass man sie ernstlich nehmen könnte. Sie wird dabei von einer Seite entgegengebracht, von der man beim besten Willen – selbst die gute Absicht nicht in Zweifel gezogen – annehmen muss, dass sie nicht auf die wirtschaftliche Hebung des Arbeiters gerichtet sein kann. Im Lande will man wenig oder keine Arbeit verschaffen. Mit Spital- und Strassenbau geht es nicht vorwärts und zum Teil werden billige österreichische Arbeitskräfte herangezogen. Das ist selbst dann zu verurteilen, wenn man auch einstweilen noch nicht auf dem Standpunkt steht, die Löhne im Lande sollen gleich hoch sein wie die in der Schweiz. Vor allem ist dies derzeit bei den Fabrikarbeitern nicht ganz möglich, da die hiesigen Fabriken unter dem Eingangszoll in die Schweiz leiden (Ein Kilo Tuch 20-30 Rp. Zoll, je nach der Güte). Verschaffe man den Liechtensteinern Arbeit statt schöne Worte. Wer schon lange die Heranziehung von Verdienstquellen unterliess oder sie absichtlich hintertrieb, wer es heute noch nicht will, der bereitet den Arbeitern Gelegenheit, mit dem Sozialismus in nähere Berührung zu kommen. Es gilt das Übel an der Wurzel zu fassen und wer dies nicht tut, der sündigt. Davon aber reden die neuesten Herren der liechtensteinischen Arbeiterfrage nicht.

Bei der liechtensteinischen Arbeiterfrage und der neuesten Bewegung sind die politische und wirtschaftliche Seite zu trennen. Wirtschaftlich will der Arbeiter sich, was ja menschlich verständlich ist, ein gutes Auskommen sichern. Das kann er sich aber nur in der Schweiz und dort, man nehme es übel oder nicht, bei der dermaligen Arbeiterorganisation nur bei der nicht-christlichsozialen Gewerkschaft tun. Fast alle in die Schweiz ziehenden Arbeiter wollen, das ist nun einmal Tatsache, derzeit von der christlichsozialen Organisation nichts wissen. Gehet hin und fraget die Arbeiter! Sie sagen euch, wir wollen möglichst unbelästigt in der Schweiz während der guten Jahreszeiten verdienen und das können wir nur bei der nicht-christlichsozialen Gewerkschaft. Sonst riskieren sie Belästigungen der Mitarbeiter und, je nachdem der Arbeitgeber gesonnen ist, Entlassung. Die Furcht vor dem Platzwechseln und damit die Sorge um die Auslage der sauer verdienten Franken beim Umherreisen, die schwarzen Listen u. ä. m. drücken unseren Arbeiter, der sowieso unter den betrüblichen Erscheinungen eines Wanderarbeiters leben muss. Im Frühling muss er seine Familie und Heimat verlassen und mit kaum hinreichendem Fahrgeld sich drüben Verdienst suchen. Was anders bleibt ihm übrig, als dass er sich zur mächtigeren, ihm wirklich oder scheinbar mehr Vorteile bietenden Gewerkschaft wendet? Mit dem leeren Geldbeutel, mit der Sorge im Herzen, dass er bald seinen zurückgelassenen Angehörigen einige Batzen heimschicken kann, hat unser sowieso wenig gewerkschaftlich veranlagter Arbeiter keine absonderliche Lust, sich noch in gewerkschaftliche Kämpfe einzulassen. Die Zeit ist ihm zu bemessen und zu kostbar, als dass er lange etwas anderes treiben könnte. Im Herbste kehrt der Arbeiter wieder heim an seinen Herd, vielleicht zu Kindern und seiner Frau. Draussen im harten Kampf ums Dasein sucht er sein billiges Auskommen dort, wo er es findet – und sei es auch bei sozialdemokratisch angehauchten Verbänden. Jammerschade, dass heute die grossen Rufer im Streite nicht mehr das gar nicht beneidenswerte Los eines herumziehenden Maurers oder Gipsers geniessen können! Das sind vor allem jene Berufe, die infolge ihrer Organisation über dem Rhein die Arbeiter zwingen, sich den nicht-christlichen Gewerkschaften anzuschliessen. Kein freies Wollen, sondern ein – leider – hartes Muss gibt den Ausschlag und besonders in den grossen Städte, wo diese Berufe Arbeit finden.

Wenn sich nun ein Arbeiter aus wirtschaftlicher Zwangslage dann einem nicht-christlichen Verband anschliesst, ist damit noch lange nicht gesagt und zum Ausdruck gebracht, dass man sich politisch und religiös mit Leib und Seele der Organisation verschrieben habe. Wäre vor allem die Machtlage zwischen der christlichsozialen und der andern Gewerkschaft umgekehrt als wie sie heute ist, d. h. wäre die christlichsoziale Organisation die mächtigere, kein langes Besinnen, die allermeisten ausziehenden Arbeiter würden sich ihr anschliessen, und das ist in Balzers ausdrücklich betont worden. Das Wirtschaftliche ist das Ausschlaggebende und nichts anderes. Gehet hin und fraget einsichtige Eltern, Frauen, Söhne und Töchter, und sie werden euch besser belehren, als es ein Zeitungsartikel vermag. Politisch d. h. mit der Sozialdemokratie, ihrem Wesen und ihren Zielen haben die meisten unserer Arbeiter nichts zu tun und wollen sie bei ihrem im übrigen angestammten demokratischen Charakter nichts zu tun haben. Dazu langen ihnen im übrigen Zeit und andere Umstände nicht. Politisch sind unsere Arbeiter in der Schweiz Ausländer und haben als solche sich in die dortigen politischen Verhältnisse gar nicht einzumischen. Glaublich dieses Jahr hat der liechtensteinische Verbandspräsident [Alois Banzer] dem Sinn nach in einer Mitteilung an beide Blätter darauf hingewiesen, die Arbeiter sollen im Lande bei ihrer entsprechenden Partei tätig sein. Hier sind sie Bürger und hier sollen sie helfen, eine neue demokratische Heimat ohne besondere Hintergedanken aufzubauen. Politische Arbeit in Hülle und Fülle. Die heute angefachte Bewegung geht wohl auf Stimmenfang für die Zukunft hinaus. Erst recht wollen unsere Arbeiter meines Wissens in religiöser Hinsicht bei der entsprechenden Gewerkschaft nichts suchen. Richtig hat ein Arbeiter in Balzers gesagt: Sie wollen keine Religion den Leuten über dem Rhein bringen und von dort keine Religion holen. Sie wollen katholisch sein und bleiben. – Tatsächlich gehen denn auch die meisten Arbeiter in die Kirche, unbekümmert um ihre gewerkschaftliche Zugehörigkeit. Diese Erfahrung spricht denn doch gegen die aufgestellte Behauptung. Übersehe man auch nicht, dass infolge der Saisonhaftigkeit der von unsern Arbeitern ausgeübten Berufe, die sie zum Hin- und Herziehen von vorneherein verurteilen und infolge des Umstandes, dass sie alle Jahre mehrere Monate heimkehren, sie nur halbe, keine vollwertigen Vereinsmitglieder sind, auf die ein Verband nicht mit aller Sicherheit zählen kann. An ihnen geht die von einigen Herren im Lande gefürchtete gewerkschaftliche Aufklärungsarbeit, die gerade in den Wintermonaten erfolgt, verloren.

Die wirtschaftliche Zwangslage ist demnach für den liechtensteinischen Arbeiter entscheidend, dass sie sich in der Schweiz dem mehrgenannten Verbande anschliessen müssen. Damit wollen sich unsere Arbeiter weder zum Sozialismus als System noch zu seinen Grundanschauungen und Hauptzielen bekennen. Es sind schwerwiegende wirtschaftliche Gründe, die sie zu diesem Schritte zwingen. Wer die nötige Einsicht hiefür aufbringt, der muss auch zugeben, dass die Schlussfolgerungen des Bettagsmandates der schweizerischen Bischöfe wohl nicht auf unseren Arbeiterverband und seine Bestrebungen Anwendung finden können. Das Urteil wollen wir dem Leser überlassen.

Mit der ganzen Bewegung gegen den liechtensteinischen Arbeiterverband hat man dem wirtschaftlichen Fortkommen unserer Leute in der Schweiz einen äusserst schlechten Dienst geleistet. Die Folgen dürften sich vielleicht noch zeigen. Behalte man doch den neutralen Charakter des Verbandes bei und helfe sich über die Schwierigkeiten der Zeit hinweg. Aus Interessen des Landes hätte man vielfach lieber gesehen, wenn dieser Kampf, der auch über den Grenzpfählen verfolgt wird, nicht heraufbeschworen hätte. Es ist sehr, sehr zu bedauern, dass man diese Einsicht dort nicht aufbrachte, wo sie hätte erwartet werden dürfen. Bei der ganzen Angelegenheit schliesslich wollen wir nicht vergessen, dass neben der Arbeiterschaft auch die Bauersame und die Gewerbetreibenden Berücksichtigung zu finden haben. Mit den Anforderungen darf nach keiner Seite zu weit gegangen werden. [5]

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[1] O.N., Nr. 84, 20.10.1920, S. 1-2. Erwiderung auf: L.Vo., Nr. 83, 16.10.1920, S. 1 („Der liechtensteinische Arbeiterbund“). Vgl. auch O.N., Nr. 82, 13.10.1920, S. 2 („Triesen“) über die am 9./10.2.1920 in Triesen, Balzers und Schaan abgehaltenen Arbeiterversammlungen.
[2] Vgl. das Rundschreiben der schweizerischen Bischöfe vom 29.7.1920 zum Eidgenössischen Bettag vom 19.9. Veröffentlicht in: L.Vo., Nr. 77, 25.9.1920, S. 1-2 („Ansprache der schweizerischen Bischöfe an die Gläubigen ihrer Diözesen auf den Eidgenössischen Bettag 1920“).
[3] Der Liechtensteinische Arbeiterverband wurde am 2.2.1920 in Vaduz gegründet (L.Vo., Nr. 10., 4.2.1920, S. 2 („Gründungsversammlung des Liechtensteinischen Arbeitervereines); O.N., Nr. 10, 4.2.1920, S. 2 („Arbeiterverein“)).
[4] Vgl. O.N., Nr. 3, 18.1.1919, S. 1-2 („Programm der christl.-sozialen Volkspartei Liechtensteins“).
[5] Vgl. in weiterer Folge L.Vo., Nr. 87, 30.10.1920, S. 1 („Liechtensteiner Volk sei auf der Hut!“); L.Vo., Nr. 88, 3.11.1920, S. 1 („Der böse Kommunismus“) sowie O.N., Nr. 90, 13.11.1920, S. 1 („Schweizer-Brief“).