Die „Oberrheinischen Nachrichten“ schildern das Los der liechtensteinischen Saisoniers in der Schweiz und streichen deren Bedeutung für das liechtensteinische Wirtschaftsleben hervor


Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten“ [1]

30.5.1914

Der Franken unseres Arbeiters

Nicht gering ist die Zahl der von Liechtenstein alljährlich in die Fremde, vornehmlich in das wirtschaftlich hochstehende Schweizerland geschickten Arbeiter; zwar ist es schwer, eine einigermassen genaue Zahl anzugeben. Schätzungsweise dürften es etwa um 250 herum, also ca. 2,5 Prozent seiner Bevölkerung sein. Verschiedene Momente erschweren ja diese Schätzung: viele Arbeiter gesellen sich das eine Jahr zu den Zugvögeln der Arbeit, während sie das andere zu Hause ihren kleinen Bauernbetrieb besorgen; viel haben sich mit ihren Familien, des ständigen Herumreisens müde, in den Schweizer Gauen dauernd niedergelassen, um dem familienlosen Leben ein Ende zu machen. So ist z.B. die Zahl der aus Triesenberg in der Schweiz wohnenden Arbeiter (und Kleinmeister) samt ihren Angehörigen etwa 200.

Dem Berufe nach gehören unsere fleissigen Arbeiter fast ausschliesslich in die Gruppe der Bauarbeiter; es sind vorwiegend Gipser und Maurer, nebst wenigen Schreinern, Zimmerleuten u.a., früher waren es nur Maurer. Wer hat nicht schon ihr Gespräch vom Welschland gehört? Mit dem Aufkommen der Gipserei wandten sich unsere jungen Leute mehr und mehr und heute fast ausschliesslich diesem Erwerbszweige zu. Soll man diese Berufsverschiebung begrüssen? Sicherlich kann sie nicht ganz gut geheissen werden, denn fehlt heute die Gipserarbeit, dann gibts arbeitslose Hände, die nur widerwillig zu anderer Arbeit greifen. Wäre es deshalb nicht angebracht, wenn sich unsere Leute mehr und mehr auf andere Berufszweige verteilen würden? Begründet liegt diese beklagenswerte Einseitigkeit im Berufsleben in der Aussicht auf schnellen und hohen Verdienst. Nach den heutigen Lohnverhältnissen verdient z. B. ein Maurer nur ungefähr ⅔ von dem was ein Gipser [verdient]. Unsere Leute aber merken es bald, wo es ihnen ein lohnendes Feld winkt.

Der Franken des Arbeiters! Ja, warum denn nicht die Krone? Das in Betracht fallende Arbeitsfeld ist vornehmlich die Schweiz. In die öster. Nachbarlande gehen nur wenige. Nicht nur haben die Arbeiter im Schweizer Land durchschnittlich einen bessern Lebensunterhalt und sind die Klassenunterschiede weniger fühlbar, sondern vor allem werden sie für den gleichen Schweisstropfen besser bezahlt. Unverkennbar liegt die Verdienstquelle Liechtensteins überm Rhein: Österreich tritt uns als das Verbrauchsland entgegen, denn wir müssen infolge von Staatsverträgen von ihm seine Lebensmittel mit dem Franken kaufen. In der Schweiz ist der Arbeiter zweifellos viel günstiger gegen Folgen des Unfalls gesichert, was bei der hohen Unfallziffer im Baugewerbe Beachtung verdient. Das weiss auch der Arbeiter. –

Der Franken unseres Arbeiters! Der Werdegang des Arbeiterbatzens und seines Erwerbes ist auch vom gesellschaftlichen Standpunkt aus beachtenswert. Wer mit diesen Leuten offenen Auges und empfänglichen Gemütes verkehrt, sie besonders in der Fremde aufsucht und beachtet, der kann lernen! – Ein Bild aus dem Leben. –

Hans ist in unserem Dorfe aufgewachsen, ging dort in die Schule als kleiner Gernegross. Seine Mutter sagt ihm schon von Kindsbeinen an: „Hänsle, du musst, wenn du gross bist, in die Schweiz gehen, um den Franken zu verdienen!“ – „Und Gipser will ich werden!“ meint unsere Stütze der Zukunft. Seine Familie ist eben wie so manch andere in L. auf die Lohneinnahmen aus der Schweiz angewiesen. – Das Kind plapperts der Mutter nach: Geld verdienen! Die Schule lässt unser Hans mit hoffnungsvollen Segeln hinter sich, Pläne entstehen und vergehen. Hinaus! In die Gaue des Schweizerlandes zieht es mächtig unsern Jungen, wo er den Beruf als Gipser erlernt, mit dem Hammer und der Kelle sich vertraut macht. Zeichen der Arbeit. Er wird von seinem Lehrmeister, gar oft eine Bekannter oder Verwandter, hart mitgenommen. Der Ernst des Lebens! Bald merkt unser Jüngling die etwa trocken aussehende Wirklichkeit, verschieden von den Träumen seiner Kinderseele. Die Gefahren seines Berufes kommen ihm auf den hohen Gerüsten, wo er Lein und Leben wagen muss, zum Bewusstsein. – Matt und abgearbeitet kehrt er abends in sein billiges Dachstübchen heim. Sein Essen macht er sich selbst aus Kaffee und Brot, oder wenns hoch geht, nimmt er sich einen billigen Kostort. Das Geld spart sich unser Hans fleissig auf, denn im Gedanken an die heimatlichen Verhältnisse erstickt jedes Bedürfnis nach unnötigen Auslagen. Ein oder zwei Monate sind vergangen; dem Hans wird sein Verdienst vom Mittwoch auf den Samstag gekündet. Um gleich wieder Verdienst zu haben, sucht er anderswo Arbeit. Seinen sauer verdienten Rappen muss er sich im Hin- und Herreisen und obendrein seine Arbeitszeit dazulegen. Endlich findet er Arbeit, aber damit ihm neue, unbekannte Lebensverhältnisse – keine heimischen. Wie ganz anders kommt ihm die Welt vor! Ach, wie bald muss er es auch empfinden, dass er nur ein Arbeiter ist und als solcher von hochtrabenden, unverständigen Menschen zurücksetzen behandelt wird. Noch mehr Ernst des Lebens! Darf man sich da verwundern, wenn sich unser Arbeiter fremd in der Schweiz fühlt, aber noch viel fremder oft in seinem Heimatland, das er mit dem nördlichen Lauf der Sonne verlassen und gar oft erst wieder betritt, wenn ihm kalte Nordwinde in die schmächtigen Glieder fahren. Jahre sind vergangen, unser Arbeiter ist Familienvater geworden. Aber er muss jedes Frühjahr seinen trauten Kreis verlassen und kann ihn oft erst mit des Herbstes Neige wieder begrüssen. So wickelt sich sein Lebenslauf an der Haspel des Lebens ab. – Mit dem Alter zeigen sich dann oft noch die dem Berufe eigentümlichen Krankheiten, so z. B. bei den viel am Luftzug arbeitenden Gipsern Rheumatismus, Fusskälte u. a. Der Arbeiter wird im Alter weniger begehrt, man hat lieber junge, kräftige Armee. Das ist dann der bittere Ernst des Lebens.

Gar manches hat sich gegen die früheren Lebensverhältnisse unserer wandernden Arbeiter geändert. Früher war es unter ihnen Mode, im Frühjahr beim Scheiden des Winters die Angehörigen und die Heimat zu verlassen und bei dessen Ankunft wieder zu einzuziehen. In neuerer Zeit suchen sie, dank der modernen Verkehrsverhältnisse, wenigstens alle Sonntage, im Familienkreise zu verbringen. Das setzt natürlich voraus, dass die Arbeitsstätte nicht weitab vom heimischen Herde liegt. Umgekehrt haben sich, wie erwähnt, viele Arbeiter dauernd in der Schweiz niedergelassen.

Unsere Arbeiter haben im allgemeinen den schönen Zug zur Sparsamkeit. Sie sparen ihre Rappen auf, tun sie in den Kasten oder sonst in eine verborgene Ecke ihres Zimmers, um sie ja bis zur Heimreise wohl verwahrt zu haben; andere schicken sie lieber gleich heim, denn dort plangt der hungernde Kindermund und die sorgende Frau auf den Sparrappen. Die Lebenshaltung des Arbeiters ist natürlich einfach.

Die Unsicherheit und Unbeständigkeit der Verdienstgelegenheit drückt die Arbeiter. Von einem Tag auf den andern arbeitslos zu sein, ist hart. Wie oft aber kommt dies vor! Das beständige Hin- und Herwalzen lässt auch das Sich-heimisch-fühlen nie aufkommen; der Zweck, sich einen Sparrappen anzulegen, wird oft zum leeren Wunsch. – Neben diesem Punkt müssen auch die Bauarbeiter den mangelhaften Verkehr in und mit der Heimat herb empfinden. Wie oft hört man den Wunsch äussern, wenn wir wenigsten mit der Bahn heimfahren könnten, statt auf halbem Wege aussteigen und sich tot laufen müssen. Für den Arbeiter ist es äusserst wichtig, wenn das Land mit einer Bahn durchfahren werden kann. Vielleicht hilft auch hier das geplante Lawena-Werk mit! –

Vor allem tut unsern Arbeitern Schulung not. Wenn man ab und zu in Liechtenstein die selbstgefällige Phrase hört, wir Liechtensteiner haben weit und breit die besten Schulen, so muss dies Lob Angesichts der von den Arbeitern gemachten Erfahrung doch bezweifelt werden. Beständig beklagen sich die Leute über ihre Rückständigkeit gegenüber andern, vornehmlich deutschen Arbeitern, im Verstehen von Plänen, Ausführen von Berechnungen etc. Könnte vielleicht nicht schon in der Schule mehr Rücksicht auf das spätere Fortkommen genommen werden, indem man auf technische Fächer wie Planzeichnen, Geometrie u. a. viel mehr Gewicht legte u. a. Fächer wie Sprachlehre etc. etwas beschränkte? Im Verlauf der Wintermonate sollten gewerbliche Fachkurse abgehalten werden. Das Kursprogramm liegt ja nahe.

Hier sollte mit staatlichen Mitteln Wandel geschaffen werden. Dass L. diesen Aufwand bringen dürfte, ist kein unbescheidenes Verlangen. Wie viele Bauern können denn ihren Betrieb nur infolge beständigen Zuschusses aus den Bauarbeiterhänden aufrecht erhalten? Der Sohn in der Fremde schickt seinem die Bauernsame betreibenden Vater den Arbeitsrappen heim. Freilich muss auch hier nicht die Bedeutung der Fabrikhände nicht vergessen werden. – Es bleibt aber bestehen, der Bauernbetrieb hat seine Stütze in dem Einkommen des Arbeiters. Es wäre interessant zu wissen, wieviel Arbeitseinkommen jährlich auf diesem Wege nach L. fliesst. In einer genauen Beurteilung fehlen uns leider statist. Angaben. – Welche Rolle der Franken des Arbeiters im l. Wirtschaftsleben spielt, wollen wir niemals, niemals vergessen.

Ehret den Arbeiter!

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[1] O.N., Nr. 6, 30.5.1914, S. 1. Vgl. dazu L.Vo., Nr. 24, 13.6.1914, S. 1 („Franken und Krone“) sowie in weiterer Folge O.N., Nr. 9, 20.6.1914, S. 1-2 („Der Franken des Arbeiters“) und O.N., Nr. 10, 27.6.1914, S. 2 („Balzers (Einges.) Der Herr Abgeordnete auf der statist. Erforschungsreise“).