Die „Oberrheinischen Nachrichten“ kritisieren die Gewerbeordnung von 1910, insbesondere die restriktiven Bestimmungen betreffend den Befähigungsnachweis im Baugewerbe


Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten" [1]

4.7.1914

Die Unzufriedenheit mit der neuen Gewerbeordnung [2]

Man schreibt uns: Wohl noch kein l. Gesetz hat eine solche Erbitterung in der Bevölkerung hervorgerufen, wie die neue am 1. Januar 1911 in Kraft getretene neue Gewerbeordnung. [3] Alte schon längst ausübende Personen sind durch dieses Gesetz in ihrem Produktions- und Erwerbsleben schwer geschädigt worden, teils weil sie sich an die Bestimmungen des Gesetzes nicht halten konnten, teils weil sie deren Formalitäten zu erfüllen vergassen. Alle Gewerbetreibende sind mit diesem Gesetz unzufrieden. Die Gründe dieser Unzufriedenheit wollen wir für dieses Mal nicht berühren. Aber dass Gründe vorhanden sind, ergibt sich schon aus dem vom Landtag in seiner 1913er Session angenommenen Resolution: „Es wird der h. Regierung und dem kommenden Landtag die Erwägung empfohlen, ob nicht kleine Reparaturen im Maurer- und Zimmergewerbe, welche nicht an eine behördliche Konzession gebunden sind, frei zu geben wären." [4]

Damit ist denn auch offiziell zugegeben, dass die neue Gewerbeordnung für unsere Verhältnisse einfach viel zuweit gegangen ist, was man bisher, trotzdem das Gesetz nicht einmal 2 Jahre in Kraft war, bestritt und in einer in persönlichem Ton getragenen Art und Weise zu bestreiten suchte. Zugegeben ist damit auch weiter, dass eine neue Klasse minderer Baugewerbetreibender geschaffen werden soll. Man kann ja die gute Absicht der Resolution nicht bestreiten, aber ebenso unbestreitbar ist, dass wir da wieder eine neue gewerbliche Klasse schaffen wollen. Wenn wir auf diesem Wege vorwärts fahren, dann muss am Ende gefragt werden, ob unsere gewerbl. Verhältnisse unter der alten Gewerbeordnung [5] und Praxis nicht besser gewesen sind.

Die Gewerbeordnung hat eben nicht jenen Absichten im praktischen Leben entsprochen, die seiner Zeit geäussert worden sind. Wenn man den Befähigungsnachweis, über den sich geradebei unsern Verhältnissen nicht ohne Grund streiten lässt, beibehalten will, dann müssen dessen Voraussetzungen doch etwas gemildert werden. Wir wollen heute nur den Befähigungsnachweis für das Baumeister-, Mauermeister- und Zimmermannsgewerbe und sonstige Bauunternehmungen streifen. Da wird nach § 14 der G.-O. verlangt, dass der Konzessionsbewerber die praktische Ausbildung und Verwendung im betr. Gewerbe durch mindestens 8 Jahre, davon wenigstens 2 Jahre als Polier oder Werkführer, nachweise und überdies eine Fachprüfung ablege. Für die Ausführung einfacher Baulichkeiten kann allerdings eine Konzession in beschränktem Umfang und unter leichteren Bedingungen erteilt werden. Auch hier ist dem Ermessen der Baubehörde ein Spielraum gelassen. Allein, welches sind denn bei uns einfache und welches komplizierte Baulichkeiten? Da beginnt schon die Schwierigkeit für das ermessende Eingreifen der Behörde und noch vielmehr für das eine gewerbliche Tätigkeit überhaupt noch ermöglichendes Arbeitsfeld. Komme man uns da nicht mit den Maurerarbeiten, denn es weiss jeder gut genug, dass bei uns der Maurer bald einfachere, bald kompliziertere (wenn man bei uns überhaupt von solchen sprechen kann) in sein Gewerbe einschlagende Arbeiten verrichten muss. Und dann, wie soll es unsern Leuten möglich sein, sich mindestens 2 Jahre als Polier zu betätigen. Wohl die meisten unserer gewerblich tätigen Leute, kommen nie, auch mit dem besten Willen nie dazu, die Stelle eines Poliers einzunehmen. Das bestätigt am besten die Erfahrung. Wenn dem aber so ist, dann ist es eben unsern meisten Leuten, wohl auch den Intelligenteren unter ihnen, einfach unmöglich, jene Konzessionsvoraussetzungen jemals beizubringen. –

Über den Wert des Befähigungsnachweises sind die volkswirtschaftlichen Schriftsteller nicht ganz einig. Die Erfahrungen in Österreich [6] sind auch nicht die allerbesten, wie sich das aus der einschlägigen Literatur ergibt. Einig ist man aber darüber, dass den Leuten die Möglichkeit, den Nachweis zu erbringen, verschafft werden muss, wenn er nun einmal verlangt wird. Wie stets nun aber damit bei uns? Es gibt ja wenig Meister bei uns, die Lehrlinge halten, und Gelegenheit zur Ausbildung in fachtechnischer Hinsicht fehlt gänzlich. Hier muss überhaupt der Hebel eingesetzt werden. Nicht Gewerbepolizei, sondern Gewerbepflege müssen wir anstreben. Not tut uns die Schulung, wie mit Recht in den Nachrichten betont worden ist; not tut uns die gewerbliche Unterstützung seitens des Staates; denn leider vermissen wir hier fast jede, einem grössern gewerblich tätigen Personenkreis nützende Subvention, not tut uns, kurz gesagt, tatkräftige Aneiferung der Gewerbetreibenden zur Ausbildung und Weiterbildung, diese Gewerbeordnung fehlt uns. Wenn es wahr ist, dass die moderne Strömung mehr dahin geht, die Wohlfahrt des Volkes durch fürsorgliche Einrichtungen des Staates als durch dessen polizeiliche zu fördern, dann sollten auch wir L. unser Augenmerk darauf richten.

Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass es bei uns mit der Abnahme der Fachprüfung sein eigenes Ding ist. Woher müssen wir die Fachleute nehmen, entweder aus unsern eigenen Gewerbetreibenden; dann ist es praktisch so, dass der Fachmann seinen zukünftigen Konkurrenten aus der Taufe heben muss, oder dann ein Fachmann aus der Nachbarschaft, welcher schliesslich bei der vermeintlichen Personenwahl doch wieder weiter nichts ist als ein Konkurrent oder dann eine mit unseren, an die Gewerbetreibenden zu stellenden Anforderungen wenig vertraut ist.

Nicht gerade hoch scheint die G.-O. auch die bisherigen Gewerbler einzuschätzen, wenn sie auch zukünftig für alle Gewerbetreibenden den Nachweis über die Entlassung aus der Volksschule verlangt. Wer unbefangen unser Gesetz liest, der könnte zur Überzeugung gelangen, es beständen bei uns noch viele nicht die Volksschule besucht habende Personen. Glücklicherweise ist dem nicht so und man ist daher versucht, dieses Erfordernis geradezu als einen schlechten Witz des Gesetzes, als einen dies nicht schmückenden Beisatz aufzufassen.

Jedenfalls steht das eine heute sicher, in irgend einer Weise muss mildernd ins Gewerberecht eingegriffen werden, denn die heutigen Zustände sind nur volkserbitternd, rufen statt Freude an der heimatlichen Scholle nur Ärger über sie hervor. Wie oft kann man nicht gerade jetzt Missstimmen hören! Mögen sich also die gesetzgebenden zu einem entscheidenden Schritt aufraffen. [7]

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[1] O.N., Nr. 11, 4.7.1914, S. 2. Vgl. auch O.N., Nr. 12, 11.7.1914, S. 1 („Der Befähigungsnachweis"). Eine Entgegnung findet sich in: L.Vo., Nr. 29, 18.7.1914, Beilage („Zur Gewerbeordnung").
[2] Gesetz vom 30.4.1910 betreffend Erlassung einer neuen Gewerbeordnung, LGBl. 1910 Nr. 3.
[3] Vgl. den undatierten Kommissionsbericht zur Regierungsvorlage in der Tagesordnung des Landtagspräsidiums für die auf den 16. und 18.12.1909 anberaumten Landtagssitzungen (LI LA LTA 1909/L01).
[4] Vgl. die Genehmigung des vom Abgeordneten Emil Batliner eingebrachten Antrages in der öffentlichen Landtagssitzung vom 20.12.1913 (diesbezügliches Protokoll unter LI LA LTA 1913/S04/2).
[5] Vgl. die Gewerbeordnung vom 16.10.1865, LGBl. 1865 Nr. 9.
[6] Vgl. das Gesetz vom 5.2.1907 betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung, öst. RGBl. 1907 Nr. 26.
[7] Vgl. in weiterer Folge den Antrag des Abgeordneten Wilhelm Beck und Konsorten auf Revision der Gewerbeordnung (Protokoll der öffentlichen Landtagssitzung vom 7.12.1914 (LI LA LTA 1914/S04/2 bzw. L.Vo., Nr. 51, 19.12.1914, Beilage)); vgl. ferner die Behandlung bzw. Genehmigung des Gesetzentwurfes zur Revision der Gewerbeordnung in den öffentlichen Landtagssitzungen vom 25.11 und 27.11.1915 (LI LA LTA 1915/S04/2) sowie das diesbezügliche Gesetz vom 13.12.1915 betreffend die teilweise Abänderung der Gewerbeordnung, LGBl. 1915 Nr. 14.