Landesverweser Josef Peer ersucht den Gesandten Prinz Eduard um Intervention wegen der von der Vorarlberger Landesregierung verhängten Warenausfuhrsperre gegen Liechtenstein


Maschinenschriftliches Schreiben von Landesverweser Josef Peer, gez. ders., an den liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard [1]

22.11.1920

Euer Durchlaucht!

Freitag früh [2] langte bei der f. Regierung die Mitteilung ein, dass die österreichische Regierung jegliche Warenausfuhr nach Liechtenstein vollständig abgesperrt habe. Zugleich wurde auch davon gesprochen, dass unter den Eisenbahnern ein Streik ausgebrochen sei [3] und beide Erscheinungen wurden auf die gerade in den letzten Wochen in aussergewöhnlichem Umfang durch Liechtensteiner in Vorarlberg betriebene Wareneinkäufe zurückgeführt. Ich setzte mich sofort mit der Finanzbezirksdirektion in Feldkirch telefonisch in Verbindung und erfuhr so, dass tatsächlich infolge telefonischer Weisung der Vorarlberger Landesregierung die Warenausfuhr von Vorarlberg nach Liechtenstein vorläufig vollkommen eingestellt wurde. Der leitende Beamte sagte mir, die Landesregierung habe sich zu dieser Massnahme durch den Notstand veranlasst gesehen, der durch einen geradezu masslosen Warenaufkauf der liechtensteinischen Bevölkerung herbeigeführt worden sei und der vorigen Donnerstag bereits schon beträchtliche und bedenkliche Demonstrationen der hiedurch arg gefährdeten Vorarlberger Konsumentenkreise ausgelöst habe. Ich machte den Beamten darauf aufmerksam, dass sich eine solche Massnahme mit dem zwischen Liechtenstein und Österreich getroffenen, in unserer Verordnung vom 1. Mai 1920, L. Gbl. Nr. 2 niedergelegten Übereinkommen [4] wohl nicht vereinbaren lasse, worauf der Beamte mir die etwas überraschende Mitteilung machte, dass dieses Übereinkommen in Österreichgar nicht publiziert sei [5] und daher die dortigen Behörden nicht behindern könne, eine solche Massnahmen zu treffen. Im weiteren Verlaufe des telephonischen Gesprächs entschlüpfte ihm dann die Bemerkung, die Sperre finde ihre Begründung im letzten Absatz des Art. 6 [6] unserer Verordnung und als ich ihn sofort darauf aufmerksam machte, dass es kaum angängig sei, eine Massnahme mit einem Übereinkommen zu begründen, dass man mangels Verlautbarung gar nicht als verbindlich ansehe, erklärte er mir wieder, dass die Sperre mit anderweitigen älteren österr. Vorschriften voll begründet werden könne. Als ich ihm darauf erwiderte, dass eine Berufung auf solche älteren Vorschriften nur dann zulässig erscheine, wenn im getroffenen Übereinkommen österreichischerseits ein diesbezüglicher Vorbehalt gemacht worden wäre, erklärte er, in die Enge getrieben und darüber sichtlich verärgert, dann rechtfertige eben der eingetretene Notstand die Massnahme. Nach Beendigung dieses Gesprächs rief ich die Vorarlberger Landesregierung an und Landesamtsdirektor Hofrat Dr. [Franz] Galli bestätigte mir, dass die Landesregierung telegraphisch, jedoch nur provisorisch, die Ausfuhr nach Liechtenstein aus dem bereits angegebenen Grunde habe sperren müssen. Eigentlich sei die Ausfuhr von Österreich erst vor einigen Wochen, wahrscheinlich als Folge des getroffenen Übereinkommens freigegeben worden. Der Eisenbahnerstreik stehe mit dieser Angelegenheit ausser jedem Zusammenhang.

Ich bemerkte Herrn Hofrat Galli, dass ich die Angelegenheit jedenfalls unserer Gesandtschaft mitteilen werde.

Es lässt sich nun leider nicht bestreiten, dass in den letzten Wochen, seitdem Österreich die Ausfuhr freigegeben hat, die liechtensteinische Bevölkerung hievon einen mehr als ausgiebigen Gebrauch gemacht und mit den ihr zu Gebote stehenden Franken Vorarlberg völlig aufgekauft hat. Allerdings haben desgleichen auch die Schweizer getan und dem Zusammenwirken beider ist zuzuschreiben, dass in Vorarlberg ein äusserst fühlbarer Warenmangel und eine für die Konsumentenpreise noch fühlbarere Teuerung entstanden ist, die dann die erwähnte Demonstration und zuletzt die Ausfuhrsperre auslöste.

Von hier aus konnte, da ja nach dem bei uns kundgemachten Übereinkommen zwischen Liechtenstein und Österreich völlige Freiheit des Handels und Verkehrs besteht und beide Teile sich verpflichtet haben, den gegenseitigen Verkehr in keiner Weise zu hemmen, den liechtensteinischen Einkäufern in Vorarlberg nicht entgegengetreten werden. Es lässt sich im Grunde genommen bei dieser Sachlage auch nicht viel dagegen einwenden, wenn Österreich bezw. Vorarlberg durch die dortige Notlage gezwungen, zu einem solchen Mittel gegriffen hat und die Gewerbetreibenden Liechtensteins werden die Sperre wahrscheinlich sogar begrüssen.

Doch glaube ich, dass es angezeigt wäre, die etwas eigentümliche Auffassung der österr. Regierung über die Pflicht zur allgemein verbindlichen Verlautbarung einmal getroffener Abmachungen zum Gegenstand einer, wenn auch ganz freundlichen Intervention zu machen. Wenn es angängig wäre, dass der eine Vertragsteil mit der Publikation solcher Abmachungen für sein Gebiet einfach zurückhält und sich, wenn ihm etwas später die Abmachungen hinderlich im Wege stehen, auf die nicht erfolgte Verlautbarung und dazu noch auf ältere eigene, in den Abmachungen nicht vorgehaltene Bestimmungen beruft, während der andere Teil so loyal war, die getroffenen Vereinbarungen sofort für sein Gebiet verbindlich zu publizieren, scheint mir eine solche Praxis denn doch nicht ganz angängig zu sein und zum mindesten hat dabei nur der vertragstreue Teil den Schaden davon. Ich kann mich natürlich nur auf die mir seitens der österr. Funktionäre am Telephon gegebenen Aufklärungen berufen, glaube aber kaum, dass sie unrichtig sein dürften und vielleicht eine, wenn auch sanfte Intervention, doch die Folge, dass die Sperre nicht über Gebühr lange ausgedehnt wird oder dass doch in absehbarer Zeit eine teilweise Milderung derselben eintritt.

Als Resumés des Vorgesagten ergibt sich, dass unsere Bevölkerung den in Vorarlberg zutage getretenen Mangel mindestens mitverschuldet hat und dass andererseits die österr. Regierung nicht ganz korrekt handelte, indem sie die verbindliche Publikation des Übereinkommens unterliess.

Ich überlasse es nun E.D. [Euer Durchlaucht] aufgrund vorstehender Mitteilungen jene Schritte einzuleiten, die E.D. für zweckmässig ansehen. [7]

Genehmigen Euer Durchlaucht den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung!

 

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[1] LI LA V 003/233 (Beilage zum Dokument mit dem Aktenzeichen der Gesandtschaft: 345/5. Aktenzeichen der Regierung: 5248/Reg.). Eingangsstempel der Gesandtschaft vom 27.11.1920. Das Dokument enthält einige handschriftliche Änderungen seitens der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien, die im Hinblick auf die diesbezügliche Verbalnote an das österreichische Aussenministerium angebracht wurden (siehe Fussnote 7). - Vgl. O.N., Nr. 94, 27.11.1920, S. 2 („Vorarlbergisches Warenausfuhrverbot").
[2] 19.11.1920.
[3] Zum Streik der österreichischen Eisenbahner in Liechtenstein siehe die Akte mit der Signatur LI LA RE 1920/1715.
[4] Vgl. Art. 1 der Verordnung vom 1.5.1920 betreffend die Abmachungen über den Handelsverkehr zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Republik Österreich, LGBl. 1920 Nr. 2, welche in Art. 1 grundsätzlich die vollständige Freiheit des Handels und Verkehrs vorsah.
[5] Vgl. die Ausgabe des diesbezüglichen Bundesgesetzblattes am 9.3.1921 (Notenwechsel zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein vom 22.4.1920 betreffend die Regelung der Handels- und Verkehrsbeziehungen, öst. BGBl. 1921 Nr. 136).
[6] Gemäss Art. 6 Abs. 3 des genannten Handelsvertrages konnten weitere – als die in Abs. 2 genannten – Ein- und Ausfuhrverbote Platz greifen, sofern sie durch Erfordernisse der eigenen Volkswirtschaft während der Nachkriegszeit bedingt waren.
[7] Vgl. das handschriftliche Konzeptschreiben für eine Verbalnote der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien an das österreichische Aussenministerium vom 27.11.1920 mit Abschriften an das Handels- sowie das Finanzministerium (LI LA V 003/233 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 345/5)): Die Gesandtschaft richtete an das österreichische Aussenministerium das „geziemende Ersuchen", die umgehende Publizierung des Handelsabkommens zwischen Liechtenstein und Österreich vom April 1920, deren Unterbleiben von Seiten Österreichs wesentlich zur Entstehung bedauerlicher Missstände Anlass gegeben habe, zu veranlassen, und „mit tunlichster Beschleunigung" die grundsätzlich vereinbarte Freiheit des Handels und Verkehrs wiederherzustellen. Wegen der Abstellung etwaiger Missstände erwartete die Gesandtschaft Vorschläge der österreichischen Regierung und stellte diesbezüglich das grösste Entgegenkommen der liechtensteinischen Regierung in Aussicht. – Mit Schreiben vom 2.12.1920 an die liechtensteinische Regierung teilte der fürstliche Gesandte mit, dass er sofort mit Bundeskanzler und Aussenminister Michael Mayr Fühlung aufgenommen und die Angelegenheit mit Ministerialrat Friedrich Schauberger im Finanzministerium besprochen habe. Das Finanzministerium habe dabei spontan gegen die Vorarlberger Landesregierung Stellung genommen und darauf verwiesen, dass die Vorarlberger Landesregierung nicht kompetent sei, derartige Ausfuhrverbote zu erlassen. Bundeskanzler Mayr habe versprochen, anlässlich des Zusammentrittes des Bundesrates mit dem Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender zu sprechen und die liechtensteinischen Wünsche zu unterstützen (LI LA V 003/233 (Einlagebogen zur Zahl 345/5)).