Schreiben von Landesverweser Leopold von Imhof an die Hofkanzlei (handschriftliches Konzept) [1]
9.11.1915
Hochlöbl. Hofkanzlei!
Mit Beziehung auf die unterm 6. November l.J. Z 12497 [2] anher abschriftlich übermittelte Note des k.k. Finanzministeriums vom 2. November 1915, Z 64.050, [3] beehre ich mich der hochlöbl. [Hofkanzlei] Nachstehendes zur Kenntnis zu bringen. In der Beschränkung des durch Art. 23 des Staatsvertrages vom 3. Dezember 1876 [4] gegenseitig zugesicherten freien Verkehres zwischen Vorarlberg und Liechtenstein hat die österreichische Regierung den ersten Schritt getan, indem dieselbe zu Beginn dieses Jahres für Liechtenstein den Bezug von Getreide aller Art einstellte. Dieser noch immer in Kraft stehenden Verfügung sind in neuerer Zeit weitere Verkehrsbeschränkungen nachgefolgt, so das Verbot der Ausfuhr von Vieh [5] und Wein aus Tirol und Vorarlberg nach Liechtenstein sowie die Beschlagnahme einer hieher bestimmten Ledersendung. Hinsichtlich der Rechtsbeständigkeit dieser Ausfuhrsverbote muss gewiss die gleiche Beurteilung Platz greifen, wie bei den von der f.R. erlassenen Ausfuhrverboten. Die Versorgung des kaum 11'000 Bewohner zählenden Landes mit seinem geringen Bedarf an Waren kann für einen Millionenstaat wie Österreich wohl keine Rolle spielen. Beruft sich aber die österreichische Regierung in diesem Falle dennoch auf ein Staatsnotrecht, so dürfte es dem Fürstentum L. umso mehr zuzubilligen sein, seine bescheidenen Vorräte an Lebensmitteln in erster Linie für sich in Anspruch zu nehmen. Was nun die Erlassung des Ausfuhrsverbotes für Vieh und Fleisch aus Liechtenstein [6] anbelangt, so waren, nachdem österreichischerseits bezüglich der rechtlichen Zulässigkeit bereits ein Präjudiz geschaffen war, hiefür zweierlei Erwägungen leitend.
Einerseits hatten die österreichischen Viehankäufe im Laufe des Frühjahres einen solchen Umfang angenommen, dass der Viehstand – der einzige Reichtum des Landes – bei einer im gleichen Masse (meist waggonweise) fortgesetzten Ausfuhr einer ernsten Gefährdung ausgesetzt war, weil die bäuerliche Bevölkerung, noch verblendet durch die damals schon ausserordentlichen Preise, mit Ausserachtlassung der Unmöglichkeit, rechtzeitig Vieh von auswärts wieder nachzuschaffen, den Händlern nur zu willig Gehör schenkte.
In Folge dieses Umstandes gestaltete sich auch die Fleischversorgung des Landes, dessen Bewohner in ihrer überwiegenden Mehrheit die damaligen Fleischpreise Vorarlbergs nicht bestreiten könnten, sehr schwierig.
Anderseits kamen gewisse politische Umstände in Betracht. Die Lebensmittellieferungen der Schweiz nach Liechtenstein waren Gegenstand abfälliger Erörterungen in der feindlichen Auslandspresse, die unliebsame Zweifel an der Haltung der Schweiz und Liechtensteins gegenüber Österreich auslösten. Diesen sollte mit dem Hinweis auf obiges Ausfuhrsverbot begegnet werden.
Die im § 2 der bezüglichen Verordnung ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen [7] hat die f.R. von allem Anfang an reichlichst eintreten lassen.
Besonders ist dies seit Ende der Alpszeit der Fall, da das Vieh wieder ins Thal zurückgekehrt ist.
Wie unzutreffend der vom k.k. Finanzministerium erhobene Vorwurf einer rigorosen Handhabung des gedachten Ausfuhrsverbotes und einer schweren Schädigung der Approvisionierung des Landes Vorarlberg ist, wolle aus nachstehendem geneigtest entnommen werden:
Für September wurde die Ausfuhr von 600 Stück Zucht- und Nutzvieh gegen blosse Anzeige hier gestattet. [8] Aufgrund der im Oktober l.J. neuerlich durchgeführten Zählung [9] wurde in gleicher Weise die Ausfuhr weiterer 1000 Stück bewilligt. [10] Hierbei ist die f.R. aus Entgegenkommen gegen Vorarlberg bis an die äusserste Grenze dessen gegangen, was ohne Vernichtung der einheimischen Viehzucht noch zulässig ist. Selbstverständlich können auch ausländische Händler innerhalb obiger Grenze frei und direkt einkaufen. Sie konnten dies auch früher, soferne eine Ausfuhrsbewilligung für die betreffenden Stücke bereits vorlag. Nur die straflose Umgehung des Ausfuhrverbotes sollte hintangehalten werden.
Schlachtvieh und Fleisch geht fast ausnahmslos nach Vorarlberg, die hiesigen Konsumenten haben lediglich das Vorkaufsrecht, von welchem sie jedoch bei den hohen Preisen, welche die hierländischen Metzger gezwungen haben, ihre Betriebe fast ganz zu schliessen, nur in sehr geringem Masse Gebrauch machen.
An Zucht- und Nutzvieh allein wurden seit Anfang September l.J. 740 Stück nach Vorarlberg ausgeführt.
Gegen die Aufhebung des Ausfuhrsverbotes für Vieh und Fleisch sprechen gewichtige Bedenken. Sie würde hier in der Öffentlichkeit keine Erklärung finden oder zumindest die früheren Massnahmen der f.R. als zwecklos erscheinen lassen, derselben die Möglichkeit jeder Kontrolle des heimischen Viehstandes benehmen, die unbedingt nötige Aufzucht, die ja doch wieder auch Vorarlberg zu Gute kommen wird, gefährden, sie könnte Anlass geben, dass die Frage der Neutralität des Fürstentumes neu aufgerollt wird und so die weitere Lebensmittelzufuhr aus der Schweiz in Frage stellen, sie könnte endlich die Schweiz, die in letzter Zeit schon über 100 Stück Vieh nach Liechtenstein ausführen liess, bestimmen, diese Ausfuhren, aus denen das Land zum Vorteile Vorarlbergs seinen Viehstand jetzt zum Teil immer wieder ergänzt, zu sistieren.
Soferne aber das k.k. Finanzministerium trotz aller dieser Umstände unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 23 des eingangs angeführten Staatsvertrages an dem Verlangen nach Aufhebung dieses Ausfuhrsverbotes festhält, so müsste dem Fürstentum volle Gewähr gegeben sein, dass auch österreichischerseits alle seit Kriegsbeginn erlassenen Ausfuhrsverbote gegen L. wieder aufgehoben werden sowie dass der Lebensmittelbedarf des Fürstentums von österreichischer Seite nachhaltig gedeckt wird.
______________
[1] LI LA SF 13/1915/3851 ad 304. Der Text wurde am 11.11.1915 von David Strub ins Reine geschrieben.
[2] LI LA SF 13/1915/3851 ad 304, Hofkanzlei an Imhof, 6.11.1915. Vgl. auch LI LA SF 13/1915/3851 ad 304, Hermann von Hampe an Imhof, 6.11.1915.
[3] LI LA SF 13/1915/3851 ad 304, k.k. Finanzministerium an Hofkanzlei, 2.11.1915.
[4] "Vertrag zwischen Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich und apostolischen Könige von Ungarn und Seiner Durchlaucht dem souverainen Fürsten von Liechtenstein über die Fortsetzung des durch den Vertrag vom 5. Juni 1852 gegründeten Österreichisch-Liechtenstein'schen Zoll- und Steuervereines" vom 2.12.1876 (LGBl. 1876 Nr. 3). Nach Art. 23 findet "gegenseitig freier Verkehr zwischen dem Fürstenthum Liechtenstein und dem Lande Vorarlberg in dem Masse statt, als der freie Verkehr zwischen Vorarlberg und den übrigen Teilen der österr.-ungarischen Monarchie gestattet ist."
[5] Kundmachung der k.k. Statthalterei für Tirol und Vorarlberg vom 29.6.1915, Zl. XIII 346/30, betreffend die Viehausfuhr aus Tirol und Vorarlberg, Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg 1915 Nr. 46; Kundmachung der k.k. Statthalterei für Tirol und Vorarlberg vom 8.10.1915, Zl. XIII 346/182, betreffend die Viehausfuhr aus Tirol und Vorarlberg, Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg 1915 Nr. 80.
[5] Verordnung vom 26.5.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Vieh und Fleisch, LGBl. 1915 Nr. 9; Verordnung vom 5.8.1915 betreffend die Ergänzung der Bestimmungen über die Vieh- und Fleischausfuhr, LGBl. 1915 Nr. 11.
[6] Paragraph 2 der Verordnung lautet: "Ausnahmen hievon [vom Ausfuhrverbot] können, sofern dies ohne Schädigung der hierländischen Interessen tunlich erscheint, über ein von der betreffenden Ortsvorstehung begutachtetes Ansuchen fallweise bewilligt werden" (LGBl. 1915 Nr. 9).
[7] LI LA SF 13/1915/3126 ad 304, Kundmachung der Regierung, 7.9.1915.
[8] LI LA SF 13/1915/3382 ad 304, Ergebnis der Viehzählung nach dem Stande vom 1. Oktober 1915.
[9] LI LA SF 13/1915/3512 ad 304, Kundmachung der Regierung, 11.10.1915.