Landesverweser Leopold von Imhof berichtet dem Fürsten über die Lage in Liechtenstein


Schreiben von Landesverweser Leopold von Imhof an Fürst Johann II. (maschinenschriftliches Konzept mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen von Imhof) [1]

10.6.1915

Bericht des etz. über die allgemeine Lage im Fürstentum

Euer. Durchlaucht!

Im Laufe der letzten Zeit haben die Verhältnisse im Fürstentum eine sehr erfreuliche Wendung zum Besseren genommen.

Dies kommt in erster Linie in der Finanzlage des Landes zum Ausdruck. Während ich von Oktober des Vorjahres bis gegen Ende des Monates Februar genötigt war, zur Bestreitung der dringenden Auslagen bei der Filiale der österr. ungar. Bank in Bregenz österr. Staatspapiere bis zum Betrage von 160'000 K belehnen zu lassen, [2] konnte ich schon im März an die Tilgung dieses Darlehens schreiten und dasselbe bis Mitte April zur Gänze abtragen. Seither habe ich ausser dem eingelaufenen Zollgeld für das Jahr 1914 per rund 185'000 K noch über 173'000 K bei der Filiale der Kreditanstalt für Handel und Gewerbe in Feldkirch für Rechnung der Sparkassa neu eingelegt. Zu dieser Summe von rund 358'000 K kommen noch ein Barbestand von zirka 60'000 K in Münzen der neuen Prägung [3] und die demnächst fälligen Rückersätze der Gemeinden für die an ihre Bewohner in letzter Zeit überlassenen Lebensmittel per zirca 90'000 K.

Die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung bewegt sich Dank dem ausserordentlichen Entgegenkommen der Schweiz in gesicherten Bahnen. Bisher wurden bezogen  250'000 kg Weizen, 50'000 kg Mais, 20'000 kg Hafer, 15'000 kg Reis und 10'000 kg Teigwaren. Diese Artikel gelangten in der Hauptsache im Wege der Gemeinden an die Bevölkerung zur Verteilung. Die Versorgung der Bäcker mit dem erforderlichen Mehlquantum erfolgt direkt durch die fürstl. Regierung. Durch Zurückhaltung entsprechender Mengen war ich in der Lage, den Alpbediensteten die für die ganze Alpzeit nötigen Lebensmittel bereitzustellen und ausserdem den Besitzern der Alpengasthöfe das für die Betriebsführung während des Sommers voraussichtlich Erforderliche zu überlassen, ohne dabei meine Reserven zu erschöpfen. Die Preise der erwähnten Artikel sind, zumal die Kursdifferenz mit den Mitteln des mit Höchster Genehmigung Euerer Durchlaucht geschaffenen Notstandskredites [4] getragen wird, besonders gegenüber jenen in Österreich, ausserordentlich niedrig und betragen pro 1 kg Weizenmehl 50 h, für Mais 30 h, für Reis 60 h und für Teigwaren 90 h. Verhältnismässig teuer ist nur der Hafer (40 h pro 1 kg), was jedoch für die Pferdebesitzer gegenüber der Möglichkeit, Hafer jetzt überhaupt zu erhalten, wenig ins Gewicht fällt. Um die Kursdifferenz zwischen Franken und Kronen wenn möglich abzuschwächen oder vielleicht ganz zu vermeiden, habe ich bei der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich ein Konto eröffnen lassen, [5] was auch den Vorteil der rascheren und einfacheren Abwicklung des Geldverkehres mit den schweizerischen Lieferanten für sich hat. Das bezügliche Guthaben dieser Bank beabsichtige ich in dem Momente abzutragen, wo die Spannung zwischen den beiden Währungen nachgelassen hat.

Nach Ausbruch des Krieges mit Italien [6] habe ich in Bern an massgebender Stelle und zwar sowohl beim Herrn Bundespräsidenten [Arthur Hoffmann] als den Chefs aller in Betracht kommenden Departements neuerlich vorgesprochen und dort auch diesmal nicht nur die liebenswürdigste Aufnahme gefunden, sondern auch die Zusicherung erhalten, dass das Fürstentum weiterhin in jeder Hinsicht auf die Unterstützung seitens der Schweiz rechnen könne. [7] Diese Unterstützung erstreckt sich nicht nur auf die Lebensmittel, welche wie bisher in der vorangeführten Weise zur Abgabe gelangen werden, sondern auch auf die Versorgung mit anderen jetzt in Österreich nicht erhältlichen Artikeln, von denen mir hier nur die zwei wichtigsten anzuführen gestattet sei, nämlich Baumwolle für die hiesigen Fabriken und das für den Weinbau sowie Kartoffelpflanzungen nötige Kupfervitriol. Die hierländischen Spinnereien und Webereien, welche erst kürzlich weitere 16 Waggons Rohbaumwolle aus der Schweiz erhalten haben, sind jetzt bis Ende des Jahres mit dem nötigen Rohmaterial versorgt und können so sehr zum Vorteile ihrer vielen liechtensteinischen Arbeiter den Betrieb uneingeschränkt fortführen. Auch in anderer Hinsicht hat die Bevölkerung genügend Arbeitsgelegenheit, so bei Wuhr- und Rüfearbeiten, bei der mit Höchster Genehmigung Euerer Durchlaucht in Angriff genommenen Umlegung der Schlossstrasse [8] sowie bei den Befestigungsarbeiten in Tirol, wohin kürzlich wieder gegen 100 Mann abgegangen sind, [9] ferner haben ungefähr 40 auf den vorarlbergischen Alpen Dienste genommen.

Die bäuerlichen Besitzer finden reichlichen Absatz für Heu und Vieh. Am Heu wurde nach meinen Erhebungen über 520'000 kg nach Österreich ausgeführt, wovon weitaus der grösste Teil von der Heeresverwaltung angekauft wurde.

Die Viehpreise hatten schon zu Beginn dieses Jahres eine sehr ansehnliche Höhe erreicht und sind seither noch fortwährend gestiegen. Ich habe daher schon früher mein Augenmerk auf die Erhaltung eines entsprechenden Viehstandes und die Sicherung der Fleischversorgung der hierländischen Bevölkerung gerichtet und behufs Gewinnung verlässlicher Anhaltspunkte hiefür Ende April eine Viehzählung durchführen lassen. [10] Diese ergab damals einen Stand von rund 8500 Stück, wovon über 6000 auf Rindvieh und der Rest auf Schafe und Schweine entfiel. Dieser Viehstand war damals noch günstig und überstieg den bei der vorangegangenen, Ende 1911 durchgeführten Viehzählung [11] ermittelten Stand um rund 500 Stück. Seither hat jedoch die Ausfuhr einen so bedeutenden Umfang angenommen, der auf die Dauer die Landesinteressen hätte gefährden müssen. Ich war daher genötigt, von Ende Mai an die Ausfuhr von Vieh und Fleisch bis auf Weiteres zu untersagen, [12] welche Massnahme bei der Bevölkerung verständnisvolle Aufnahme gefunden hat.

Der Stand der Feldfrüchte ist ein gesegneter und gegen andere Jahre weit voraus. Wein- und Obstbau versprechen einen ausserordentlichen Ertrag. In der besseren Nutzbarmachung der Gründe, welche der Bevölkerung durch die Zeitungen und den landwirtschaftlichen Verein angelegentlich empfohlen wurde, ist heuer viel geschehen, namentlich der Anbau von Kartoffeln hat eine bedeutende Vermehrung erfahren. Zu letzterem Zwecke wurden in Österreich zwei Wagen Saatkartoffeln angekauft. Leider ist die in Österreich gekaufte Saatgerste wegen verschiedener Hindernisse, welche die österr. Behörden der Ausfuhr derselben in den Weg legten, so spät eingetroffen, dass dieselbe nicht mehr angebaut werden konnte. Sie findet nunmehr als Viehfutter Verwendung. Der Bewirtschaftung der im angrenzenden vorarlberger Gebiete gelegenen Grundstücke der Bewohner des Unterlands und der Verkehr Vorarlberg unterliegt, seit dieses Land als Kriegsgebiet erklärt wurde, mancherlei Erschwerungen und Beschränkungen.

Die allgemeine Teuerung macht sich naturgemäss auch hier fühlbar, trotzdem hat sich aber die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung jetzt erheblich gebessert, was auch insofern zum Ausdrucke kommt, als Gesuche um Notstandsunterstützungen, deren Zahl in den Wintermonaten noch eine ausserordentlich hohe war, in letzter Zeit nur mehr selten eingebracht werden.

Im Zusammenhalte aller vorstehend ehrerbietigst angeführten Umstände erscheint ein günstiger Ausblick in die Zukunft wohl gerechtfertigt.

Der Bau der neuen Schlossstrasse schreitet günstig voran. Die neue Trasse eröffnet in ihrem ersten Teil einen prachtvollen Fernblick auf das Oberland und die Schweizerberge und führt dann längs des Felsgehänges durch schönen Buchenbestand zum sog. Hundsgarten. In diesem muss auch in alten Zeiten die erste Strasse gelegt gewesen sein, denn die Ausschussöffnungen des 1527 erbauten nördlichen Rondels bestreichen nur diesen Teil, nicht aber die jetzt aufgelassene, in einer Einsenkung führende Strasse. Vom Hundsgarten gelangt die neue Strasse mittels einer Schleife auf die beim Schloss gelegene Quadretscha-Wiese, wo sich eine herrliche Gesamtansicht des Schlosses darbietet. Unmittelbar beim Schlosse musste die neue Strasse bei ihrer Einmündung in die alte der gleichmässigen Steigung halber etwas tiefer gelegt werden, wobei der im Laufe der Zeit aufgeschüttete Belag der alten Strasse wieder aufgefunden wurde, ein weiterer Beweis, dass die neue Trasse bei aller Rücksicht auf die Technik neuzeitlichen Strassenbaues doch auch dem historischen Momente möglichst gerecht wird.

Der unschöne, dem Schlosseingang auf moderner hoher Brüstungsmauer vorgelagerte Krautgarten, welcher durch die neue Strasse angeschnitten wird, wurde ganz entfernt, ebenso ein noch vom Schlossbau herrührender Schutthaufen, wodurch die nähere Umgebung des Schlosses sehr gewonnen hat. Die Gartenerde wurde in den Schlossgarten befördert, wo dieselbe bei der künftigen Gartenausgestaltung zweckmässig Verwendung wird finden können, das Gestein der Brüstungsmauer und das Schuttmaterial wird bei der neuen Strasse benützt. Historische Funde, welche bei der Bauvergebung ausdrücklich für die fürstl. Domäne vorbehalten worden waren, wurden bisher leider nicht gemacht. Der von Euerer Durchlaucht über meinen untertänigsten mündlichen Vortrag vom 23. Jänner 1915 zu den Baukosten der Schlossstrassenumlegung gnädigst bewilligte Beitrag im Höchstausmasse von 20'000 K findet in den Ersparungen bei den für den Schlossbau bereits früher genehmigten Summen mehr als volle Deckung.

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[1] LI LA RE 1915/2047. Der Bericht wurde am 10.6.1915 von David Strub ins Reine geschrieben. Das abgesandte Exemplar unter AT HALW H 1808. Ein weiteres Exemplar unter LI LA PA 001/0021/05. Der Fürst verdankte den "sehr erfreulichen Bericht" mit Resolution vom 22.6.1915 (LI LA RE 1915/2047).
[2] Im Oktober 1914 hatte Liechtenstein mit der österreichisch-ungarischen Bank eine Belehnung von Papieren der Landes- und Sparkasse mit bis zu 100'000 Kronen vereinbart (LI LA RE 1914/2268ad2131).
[3] Liechtenstein hatte für insgesamt 200'000 Kronen Münzen à 1, 2 und 5 Kronen prägen lassen (Gesetz vom 22.12.1914 betreffend die Neuprägung von Silbermünzen der Kronenwährung, LGBl. 1914 Nr. 13).
[4] Der Landtag hatte am 14.12.1914 einen Kredit von 20'000 Kronen für Notstandsarbeiten und weitere Massnahmen sowie einen Kredit von 3000 Kronen zur Unterstützung notleidender Familien geschaffen (LI LA LTA 1914/S04/2).
[5] LI LA SF 13/1915/0516 ad 304, Regierung an Schweizerische Kreditanstalt, 17.2.1915.
[6] Italien erklärte am 23.5.1915 Österreich-Ungarn den Krieg.
[7] Imhof hatte am 7.6.1915 in Bern vorgesprochen, vgl. L.Vo., Nr. 24, 11.6.1915, S. 1 ("Lebensmittelversorgung").
[8] Zum Bau der Schlossstrasse vgl. LI LA RE 1915/0401.
[9] Im Frühling und Sommer 1915 arbeiteten zahlreiche Liechtensteiner bei Grenzschutzbauten im Pustertal (Südtirol). Der Einsatz wurde zu einem Politikum, da sich die Liechtensteiner Arbeiter beschwerten, sie müssten bei unzureichender Verpflegung in einem wegen der Nähe zur Front gefährlichen Gebiet arbeiten. Nach Interventionen von Regierung und Hofkanzlei konnten die Arbeiter im Herbst 1915 heimkehren. Vgl. dazu LI LA RE 1915/2745.
[10] LI LA SF 13/1915/0977 ad 304/920.
[11] LI LA RE 1912/0008.
[12] Verordnung vom 26.5.1915 betreffend das Verbot der Ausfuhr von Vieh und Fleisch, LGBl. 1915 Nr. 9.