Rheinberger berichtet Johnie Mayer seine Gedanken über die Entwicklung der zeitgenössischen Musik, Komponisten und Kritiken


München den 16.11.96

Mein lieber Johnie!

Dein freundlicher Brief soll nicht lang unbeantwortet bleiben, wenn ich auch eben nicht viel Interessantes zu berichten habe. Wenn man ein gewisses Alter (sagen wir: 50) erreicht hat, verfliesst ein Tag wie der andere, und wenn das 365 mal der Fall war, blättert man um und ist wieder um ein Jahr - gescheidter. Ist's in Wien ebenso? Zwar hast Du glücklicherweise Familie und wirst wohl in Folge dessen weniger einsam sein und nicht dergleichen Schrullen nachhängen! Du kannst mit Deinen Kindern eine neue Jugend durchleben, ja - wenn Du erst Grosspapa - zum drittenmal alle Jugendthorheiten mitmachen. Dass Dir da noch Zeit bleibt, auf dem Clavier meinen Thorheiten nachzugehen, und zwar so intensiv, das freut mich und daran erkenne ich meinen lieben alten, jung gebliebenen Johnie! Meine romantische Sonate macht mir selbst viel Freude, wohl auch in folge des vielen Hineingedachten; ich läugne nicht, dass es ein Schmerzenskind ist, ohne dass es deswegen missrathen zu sein braucht.

Während Euch Cerberus Hanslick keine anderen als Brahms'sche Novitäten erlaubt, sind wir Wilde doch bessere Menschen: wir führen sogar Bruckner'sche Sinfonien auf, die man verwundert anhört, ohne dass sie Einem gefallen. War das ein seltsamer Kamerad - ein Conglomerat der widersprechendsten Eigenschaften! So Einer wäre in Norddeutschland gar nicht denkbar - man würde dort zehn Komponisten aus ihm gemacht haben, die dann ganz anders aufgetreten wären! Da den Bruckner'schen Werken aber eine Hauptsache: das künstlerische Ebenmaass, fehlt, so werden sie in der Musikgeschichte als Kuriositäten figuriren; ja es soll eines seiner Sinfonie- Ungeheuer 2 1/2 Stunden dauern - in einer so kurzlebigen Zeit! Das ist ungefähr wie ein Bild von 10 Fuss Breite und 120 Fuss Höhe! Mit so etwas kann Hanslick's Schützling freilich nicht aufwarten!

Gestern las ich in der N/euen/ fr/eien/ Pr/esse/ einen Aufsatz H/anslicks/ über Brahms' neueste Komposition (für Bass-Solo) über den Text: „Es geht dem Menschen wie dem Vieh, beide müssen sterben“, - das muss wahrlich eine schöne Wirkung machen! Hanslick findet dies „tiefernst“ - ich fürchte aber, dass die fidelen Wiener einen lustigen, Strauss'ischen 3/4 Takt vorziehen werden ( wobei ich natürlich den Wiener Strauss meine, denn der unsere  ist auch „tiefernst“[1].)

Da kann man sehen, dass Liebe blind und Kieselsteine verdauen macht, ich finde es auch überflüssig, dass man alle  Bibelsprüche in Musik setzt - sie sind ja ursprünglich (wahrscheinlich) nicht dazu bestimmt; doch muss das die „Neue freie Presse“, die ja dem alten Testament näher steht, besser wissen.

Um was ich aber Euch Wiener ernstlich beneide, das ist Euer Dr. Lueger[2]; so einen „Atmossphäreverbesserer“ könnten wir in der Musik brauchen! Ich lese seine Reden mit Genuss - denn das ist einer der wenigen Österreicher, die sich vor Eurer „Presse“ nicht ducken.

Du fragst nach meinen neuen Sachen? Ich gedenke jetzt ein wenig zu pausiren und ein bisschen „zu verschnaufen“ - wie es einem „Asthmatiker“ von Profession zukömmt.

Grüsse herzlichst Deine von mir hochverehrte Gattin und die ganze junge Generation und schreibe gelegentlich wieder

Deinem alten Kameraden
Jos. Rheinberger

 


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[1]der unsere ist auch „tiefernst“ = Richard Strauss.
[2] Euer Dr. Lueger = Karl Lueger (1844-1910), seit 1897 Bürgermeister der Stadt Wien, Gründer und Führer der Christlich-sozialen Partei, war als Kommunalpolitiker eine sehr populäre Gestalt.