München 16.1.96
Lieber Herr Renner!
Eben habe ich Ihre D moll-Messe zum zweitenmal durchgelesen und sehe die Unmöglichkeit ein, das Werk in brieflicher Kürze so zu besprechen, dass Sie Nutzen davon haben, da der Einzelheiten zu viele sind, an die sich Bemerkungen knüpfen müssen. In mancher Hinsicht ist das Werk das Beste, was ich von Ihnen kenne - ich meine nämlich eine gewisse Ungenirtheit und Kraft der Ausdrucksweise, die aber leider wieder manchmal bis an die Gränze des Harten und Unsangbaren geht, ja manchmal (in modulatorischer Hinsicht) sogar derb und unschön (z.B. 6-7 Takt im Agnus) auftritt. Andererseits findet sich soviel des Vortrefflichen (Kyrie, Et incarnatus) und Charaktervollen, dass man obiges doppelt bedauert.
Im Ganzen ist zuviel Grau in Grau - das Gloria, das Osanna sind zu wenig freudig im Ausdruck. Solche Lichtpunkte darf sich ein Komponist nicht entgehen lassen. Sodann Sangbarkeit und Klangschönheit!
Ohne dieselben hat die Musik keine Berechtigung!
Ich weiss wohl, dass diese meine Ansicht viele und gewichtige Gegner hat, aber, weiss ist weiss, nicht grau und schwarz -.
Musik darf niemals grübelnd und verdriesslich klingen! Musik ist im Grunde Ausfluss der Freude und selbst im Schmerz kennt sie keinen Pessimismus!
Sehen Sie die 17 oder 18 Takte von dem „qui tollis“ im Gloria mit diesem Übermass von Modulation und denken Sie, wieviele Proben nothwendig wären um dieses s c h ö n zu singen! Ich habe mir viele Stellen angemerkt, um sie zu besprechen, wenn Sie wieder einmal bei mir sind! Doch wo viel Licht ist, ist eben auch viel Schatten, und das Gute und Charakteristische wiegt vor - aber brieflich mich über Alles zu verbreiten ist mir unmöglich, denn ähnliche Anfragen kommen mir zu oft!
Hoffentlich sind Sie wohlbehalten wieder in Regensburg eingetroffen und verzeihen mir das lange Stillschweigen.
Mit bestem Grusse, auch an Frau Gemahlin,
Ihr herzlich ergebener
Jos. Rheinberger.
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