Charlottenburg II, d. 27.1.95
Hochgeehrter Herr Professor!
Nehmen Sie meinen verbindlichen und allerherzlichsten Dank für die überaus grosse Freude, die Sie mir durch Übersendung der beiden Hefte canonischer Clavierstücke[1] gemacht haben. Mit bewundernswerther Leichtigkeit und staunenswerthem Geschick haben Sie ein Problem gelöst, das so mancher Meister vor Ihnen zu lösen versucht hat. Aber selbst Schumann, glaube ich, ist es nicht gelungen, die canonische Form mit solcher Leichtigkeit, Feinheit und Anmuth zu handhaben, wie das Ihnen geglückt ist. Nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch zu diesem wahrhaften „Unicum in unserer Musikliteratur“. Ich habe das Werk sofort meinen Schülern im Conservatorium (Klindworth) vorgelegt und von Anfang bis Ende durchgenommen. Ich wünschte, Sie hätten die freudige Begeisterung und das ausnehmend grosse Interesse sehen können, mit der jede einzelne Nummer Ihres prächtigen Werkes aufgenommen wurde. - Ihr Orgelconcert (No.2) habe ich hier schon 4 mal in der Philharmonie und stets mit dem grössten Beifall gespielt; zuletzt, heut' vor 8 Tagen, in einem populären Sonntags- Concert auch Ihre C-dur Sonate[2] (mit der Idylle) mit nicht geringem Erfolge! Ich freue mich herzlich, dass Ihre vortrefflichen Orgelwerke gerade bei dem grossen, durch keine Vorurtheile beeinflussten Publicum so festen Boden gewinnen und ich glaube, dass diese Thatsache für Sie der schönste Lohn Ihrer rastlosen Thätigkeit sein muss. Möge Ihnen auch weiterhin so manches schöne Werk gelingen, der wahren Kunst zu Ehr, Ihnen zum Ruhm und uns allen zur Freude und Erbauung.
Mit den herzlichsten Grüssen und der Versicherung grösster Hochschätzung
Ihr dankbar ergebener
H. Reimann.
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[1] der beiden Hefte canonischer Clavierstücke = „Sechs Tonstücke in fugierter Form“, Erste Folge op. 39 (komp. 1862), Zweite Folge op. 68 (komp. 1861 und 1873).
[2] Ihre C-dur Sonate = Orgelsonate Nr. 14 in C-dur, op. 165, komp. 1890. Der 2. Satz (Andantino) ist mit „Idylle“ überschrieben.