Robert Franz wendet sich an Franziska Rheinberger und lobt Rheinbergers Lieder "Am Seegestade", die Fanny gedichtet hatte.


Halle, .23.03.1890

Gnädige Frau!

Sie haben mir mit der Zusendung des op. 158 Ihres Herrn Gemahls grosse Überraschung und Freude bereitet, für die ich Ihnen nicht dankbar genug sein kann. Überraschung, wegen der mich hoch ehrenden Widmung, Freude, well ein tauber Nensch, der nur noch vom Imaginären der Töne mühsam seine künstlerische Existenz fristet, endlich wieder einmal einem Ausdruck begegnet, in welchem er sich zurecht finden kann.

Ist es schon sehr bedenklich, Stillosigkeit und Willkür in den breiten Formen der Musik (vom Drama rede ich hier nicht) Platz greifen zu sehen, so sind dergleichen Experimente auf dem Gebiete der reinen Lyrik, dem Liede, geradezu unerträglich. Unserer schönen Kunst wird jetzt von links und rechts arg zugesetzt! Die Fortschrittsmänner nehmen sie ebenso sehr in die Presse, wie die Rückschrittler: wer die goldene Mitte zu halten sucht, möchte dabei Ach und Weh schreien! Wir beide!! Sagen Sie doch bitte Ihrem Herrn Gemahl, dass mir die Durchsicht der beiden Hefte seines op. 158 zur wahren Erquickung gereicht hat, zu einer Erquickung, die noch weit intensiver sein würde, wenn ich im Stande wäre, mich an der materiellen Wirkung der 8 Gesänge, wobei ich namentlich den "Königsstrand" im Sinne habe, erfreuen zu können. - Ihnen, meine gnädige Frau, darf ich wohl zu den musikalischen Texten ganz ergebenst Glück wünschen.

Mit den herzlichsten Grüssen an Sie und Ihren Herrn Gemahl, dessen Gesundheit hoffentlich recht bald wieder hergestellt sein wird,

Ihr

ergebenster

Halle, d.23. März 90. Rob. Franz.

P. Scrp

Noch bitte ich, Ihrem Herrn Gemahl mitzutheilen, dass in Kurzem bei Breitkopf & Härtel eine neue Ausgabe des Wohltemperirten Claviers erscheint, die von mir und meinem Freude Otto Dresel redigirt worden ist. Die Orthodoxie der Historiker von Franz Kroll und Hans Bischoff,[1] der noch verschiedene Nachfolge zu drohen scheint, hat dem wunderbaren Werke Formen ausgedrängt, die eine Revision des Textes unter künstlerischen Gesichtspunkten durchaus nöthig machen. Es sollte mich sehr freuen, wenn wir hin und wieder die richtige Lesart getroffen hätten.

Der Obige.

 

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[1] Franz Kroll und Hans Bischoff = Franz Kroll (1820-1877) war u.a. Herausgeber von Band XIV (Des Wohltemperierte Klavier I + II) der Gesamtausgabe der Bachgesellschaft. Hans Bischoff (1852-1889) publizierte eine kritische Ausgabe der Klavierwerke Johann Sebastian Bachs bei Steingräber.