Heidelberg am 6.3. 1885
Sehr verehrter Herr Professor!
Ihnen für Ihren freundlichen Rat und der gnädigen Frau für die gütige Übermittlung desselben meinen herzlichsten Dank. Ich dachte mir auch, dass es besser sei, wenn ich hier bliebe. Hier kann ich auch arbeiten und mir vormusiciren lassen; in Mannheim und Carlsruhe kann ich ebensoviel Novitäten hören wie in Köln.
Die Bearbeitung des letzten Quintett-Satzes hat sich bis heute verzögert in Folge vielfacher anderweitiger Arbeiten. So wurde ich z.B. für das neue badische offizielle Präludienbuch der prot. Kirche mit 54 Coralvorspielen geplagt, die ich nun glücklich hinter mir habe. Prof. Faisst [1] in Stuttgart ist die oberste "Zensurbehörde". Ich habe mich bei einigen Präludien meiner Haut so energisch gewehrt, dass er nun nicht mehr wagt, Wünsche seines pedantisch-kritischen Herzens laut werden zu lassen.
In den letzten 4 Wochen musste ich die Geschichte des Kirchenliedes zu Ende bringen; dieses Ende bestand in den beiden letzten Jahr-100! Zu diesem Zwecke musste ich die beiden letzten Bände Winterfeld durchlesen, ausziehen und andre Literatur damit vergleichen und ca. 150 Seiten Vortrag schreiben.
Ich danke Gott, dass ich jetzt diese Orgel einmal heruntergespielt habe, und dass jetzt ca. 7 Wochen Ferien kommen. Da will ich den Musiker in mir wieder vollständig zu Worte kommen lassen.
Letzten Montag hatte ich hier mit Wihan Concert; ich spielte Stücke von J.S. Bach zum wahren Vergnügen der Leute. Das hat mir riesigen Spass gemacht, denn Bach ist dem Namen nach höchstens bei einigen Professoren bekannt. Der akademische Musikdirektor Boch hat in seinem Leben nichts von Bach aufgeführt, jedenfalls aus Bescheidenheit - damit die Leute nicht meinen, er sei der Componist der „zopfigen" Stücke und Johann Sebastian Bach wäre verdruckt und müsse heissen: Johann Sebastian Boch. Verzeihen Sie diese schlechten Witze!
Ich spielte noch eine Novität: Variationen op. 24 von Edward Grieg, die mir während des Studiums ein grosses Vergnügen machten und deren Reproduction kein kleines Stück Arbeit bedeutet. In der nordischen Musik (Grieg steht ganz auf dem Boden der norwegischen Volksmusik) ist so etwas Melancholisches, Eigenartiges, das mich immer wieder fesselt. - Ich erlaube mir, das Programm mit einer Besprechung in der Heidelberger Zeitung Ihnen zu schicken. Die Kritik soll von einem Professor stammen.
Nun freue ich mich sehr, Sie bald wieder sehen zu dürfen! Mit vielen Empfehlungen an Sie und die gnädige Frau bin ich Ihr dankbarst ergebener
Wolfrum.
Heidelberg am 6.3. 1885
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[1] Prof. Faisst = Imanuel Faisst (1823-1894), Organist, seit 1859 Direktor des Konservatoriums in Stuttgart, das er mitbegründet hatte.