Anfang Januar wurde Ferdinand Hiller operiert, Franziska Rheinberger versucht ihm Trost zu spenden.


München 23. Jan. 1885

Sehr geehrter Herr v. Hiller.

Da ich Ihnen im neuen Jahr 1885 noch keinen Gruss geschickt, auch noch nicht gedankt für Ihre letzte Sendung "aus der Krankenstube", die uns, wie Alles aus Ihren geist- und gemüthvollen Erinnerungen theuer war, so zögere ich nicht, Ihnen heute die wärmsten Grüsse von Franz Lachner [1] und uns zu senden. Vor einer Stunde waren wir zusammen im kleinen Odeonssaal, um das neue Orgel-Orchester-Concert von Rheinberger zu hören, und wenn Sie nicht empfunden haben, wie sehr wir Sie (Freitags 5-6 Uhr) zu uns gewünscht haben, so gibt es kein Ahnungsvermögen! Auch Vincenz Lachner war dabei, und die beiden alten Herren sahen sehr befriedigt aus über die Musik. Franz Lachner sagte sogar: "Sie ist so frisch und kräftig, dass Hiller davon gesund werden müsste, wenn er sie hören könnte."

Kurz - wir haben Ihrer in echter, herzlicher Freundschaft gedacht und beklagten, dass Sie nicht bei uns sein konnten. - Auf der neuen Gewandhausorgel soll jüngst dieses Concert in Verbindung mit dem Orchester gut geklungen haben; es giebt sogar in Leipzig Enthusiasten, welche an den Componisten eine "Orgel-Elegie" dichten. Wir lesen fleissig die Berichte über Cöln, aber Ihr Name fehlt um so mehr dabei! - Wie schön, dass wir noch vor Thorschluss mit Ihnen sein durften; wir werden diese glücklichen Tage nie vergessen. Vielleicht gehen wir im Frühling zu "Christophorus" [2] nach London und streifen dann Cöln. Doch das Plänemachen hat selten eine reale Consequenz.

Mein Mann hat kürzlich ein Nonett [3] für Streich- und Blasinstrumente beendet und hat jetzt mehrere sechsstimmige Motetten [4] mit Orgelbegleitung geschrieben, von denen schon einige in der HofcapelIe gesungen wurden. Die letzte, die ich hörte, "Dextera Domini fecit virtutem" hat mich sehr ergriffen, weil sie über die irdischen Gefühlsgrenzen hinaus klingt und eine sehr lichte Hoffnung in die Seele bringt, denn je älter man wird, desto weniger wirkliche Ruhe giebt alles Zeitliche. Der Geist lässt sich nicht täuschen, und keine Entzückung kann ihm das Heimweh stillen, nur ein fester Glaube, eine echte Liebe, eine klare Hoffnung auf Unsterblichkeit; nicht die mesquine Unsterblichkeit, die von der Laune des später geborenen Capellmeisters abhängt, ob und wie er das Werk des Vorgängers aufführen will. Im ewigen Geist ist alles gross, und im Seingedenken tröste ich mich über so manche Kleinigkeit unserer Zeitgenossen. Sursum corda [4] , singt unsere Kirche alle Tage so herzlich. Diesen Wunsch rufe ich auch Ihnen zu und hoffe aufrichtigst, dass Ihre Leiden Ihnen keine zu unerträglichen Fesseln auferlegen. Wenn ich Jahre lang so recht elende, schmerzvolle Nächte hatte, dann dachte ich daran, wie sich auch der Leib die Auferstehung verdienen muss - wenn auch in anderer Gestalt. Drum möchte ich Sie im Geist mit den Händel-Messias-Tönen umrauschen und Ihrer Seele eine recht wahrhafte Tröstung geben können!

Mein Mann grüsst Sie tausendmal und wünscht Ihnen von Herzen soviel Kraft, dass Sie wieder ein Werk schaffen, an dem wir uns alle erfreuen können.

In steter Dankbarkeit Ihre ergebene

Fanny Rheinberger.

 

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[1] Vincenz Lachner = Es scheint eine Verwechslung zu sein. Da Vinzenz Lachner schon 1893 verstorben war, handelt es sich vermutlich um seinen Bruder Ignaz (1807-1895).
[2] "Christophorus" = Oratorium für Soli, Chor und Orchester, op. 120; Text von Fanny von Hoffnaass.
[3] ein Nonett = Es-dur, op. 139
[4] mehrere sechsstimmige Motetten = Fünf Hymnen für vierstimmigen (nicht sechsstimmigen) Chor mit Orgelbegleitung, op. 140
[5] Sursumcorda
 corda = Empor das Herz (Responsorium zur Einleitung der Präfation in der Messe)