München, den 8. 2. 01
Sehr verehrte gnädige Frau!
Vor Allem meinen herzlichsten Dank für den freundschaftlichen Brief, womit Sie mich beehrten. Sie sagen mit Recht, dass der Briefwechsel mit einer so jungen Seele, wie es die so tief, geistvoll und ideal angelegte Fräulein Henriette ist, mir die grösste, reinste und auch interessanteste Freude bereitete und noch bereitet. Ihr liebenswürdiger Charakter, reich entwickelter Geist, ihr oft überraschend reifes Urtheil verbunden mit ernsthaften, wissenschaftlichen Bestrebungen setzten mich oft in Verwunderung und riefen immer wieder neue Themen auf's Tapet, so dass nie ein Fertigwerden möglich war, und der Briefwechsel wohl umfangreicher als ursprünglich beabsichtigt wurde. Und so kam es, dass wir, persönlich uns fast fremd, brieflich aber in freundschaftlichem Verkehr uns schon fast in allen Themen ergangen haben.
Obschon ich nun in Ihrem geschätzten Briefe keine auch nur entfernte Andeutung darüber finde, so könnte denn doch der Gedanke nahe liegen, Sie möchten vielleicht glauben, dass unser Briefverkehr einen dem ohnedem so ernst angelegten Sinn meiner verehrten Freundin noch verschärfteren Charakter verleihe - in welchem Falle ich selbstverständlich Ihrem Wunsche nach Aufhören des Verkehrs sogleich nachkommen würde und müsste. Ich gestehe, dass mir dies ein grosses Opfer wäre (und Fräulein Henriette wohl ebenso), so würde Ihr elterlicher Wunsch fraglos umsomehr respektiert, als Fräulein H. in ihren Briefen mit der innigsten Zärtlichkeit und kindlichen Dankbarkeit so oft ihrer Mutter gedenkt, die sie über Alles in der Welt verehre und liebe. Besonders zu der Zeit, als gnädige Frau in Metz abwesend waren, konnte sie jener Gesinnung nicht genug Ausdruck geben. - Sollten Sie aber, verehrteste gnädige Frau, dennoch irgend einen ungünstigen Einfluss meiner Briefe (den ich mir aber nicht denken kann) befürchten, so werden Sie es mir wohl offen kundgeben, da ich um Alles in der Welt mir hierin nicht Ihr Missfallen zuziehen wollte.
Mit dieser freimüthigen Bemerkung
und dem Ausdruck vollkommener Hochachtung verbleibe ich
Ew. Hochwohlgeboren ergebenster
Jos. Rheinberger.
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