Berlin, den 5. 1. 1901
Verehrter Herr Geheimrat!
Da Sie mit unserer Tochter in so regem geistigem Verkehr stehen, ist es mir Bedürfniss, Ihnen auch einmal einen herzlichen Gruss zu senden und Ihnen zu danken für alle Güte und Freundlichkeit, die Sie dem jungen Menschenkinde erweisen durch Ihren Briefwechsel. -
Ich hoffe, Sie haben andererseits auch Freude, einen ersten Eindruck in eine junge Menschenseele zu bekommen. Ich bin überzeugt, Sie freuen sich an dem ernsten Streben nach Vervollkommnung und werden doch auch als väterlicher Freund einen Tadel nicht scheuen, wo die suchende und ringende Seele oft abschweift von der einfachen, natürlichen Bahn. So herrlich es ist seinen Kindern alle Genüsse des Lebens (ich meine natürlich die edlen Genüsse) gewähren zu können, so liegt doch auch eine grosse Gefahr für ein junges Menschenkind darin, das als selbstverständlich hinzunehmen, und sich künstliche Sorgen zu schaffen. Wie viel einfacher und natürlicher entwickelt sich ein Charakter, wo die zwingende Nothwendigkeit vorliegt einen Beruf zu ergreifen, um durch denselben eine Stellung in der Welt sich zu erringen. Und doch, wie viel Zartes, Liebliches wird dabei oft von einer Mädchenblüthe abgestreift. -
Kaum eines meiner Kinder bedurfte und empfing so viel sorgende Liebe, und dennoch kommen Zeiten, wo ich mir sage, sie muss allein mit sich und dem Leben fertig werden; man kann sie jetzt nur stillschweigend in treuer Liebe leiten und umgeben.
Es hat sie eine innere Scheu überkommen im Verkehr mit jüngeren Männern, weil sie trotz ihrer Bescheidenheit oft missverstanden wurde; und dennoch habe ich das Gefühl, dass sie sich erst vollkommen entwickelt an der Seite eines sehr braven und sehr tüchtigen Mannes. So begabt und tüchtig sie ist, so fehlt ihr doch noch der feste innere Halt. Sie begnügt sich nicht an jedem täglichen, wenn auch kleinen Glücke, und man möchte es ihr doch immer zurufen, geniesse das Gute, du weisst ja nicht, was nachher kommt.
Doch das sagen WIr, die wir eine Generation älter sind und die Erfahrung haben.
Ich hoffe, mein verehrter Geheimrat, Sie verzeihen mein Eindringen in Ihre vier Wände; aber wer mit der Tochter so freundschaftlich steht, wird auch Interesse daran haben, wie die Mutter für ihr Kind sorgt und denkt.
Und so reiche ich Ihnen denn die Hand und sage, so Gott will, auf ein freundschaftliches Wiedersehen im Sommer, im lieben alten Kreuth.
Ihre sehr ergebene
Bertha Hecker
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