Langer Brief an Henriette über verschiedenste Themen.


München, den 14. 1. 01

Meine theure Freundin!

Heute früh werden Sie meinen Brief erhalten haben, der hoffentlich nichts enthält, was Sie im geringsten verstimmen könnte; hat ja doch unser ganzer Gedankenaustausch hauptsächlich den Zweck, durch Pflege der Freundschaft ein Schärflein zum seelischen Glücke beizutragen. Wie hoch wir dies Schärflein taxieren, ist ganz unsere Sache, welche sonst Niemanden etwas angeht. Sie betonen in Ihren Briefen häufig Ihre Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe - das sollen Sie gar nicht thun - es ist ja mir gegenüber ganz selbstverständlich; wer das Glück hat, Sie zu kennen, wird daran nicht zweifeln können. Ein komisches Missverständniss ergab sich mir durch einen von Ihnen geschriebenen undeutlichen Buchstaben: Sie schreiben: "An Trost hat's Ihnen in letzter Zeit nicht gefehlt: 17.16 Grad das will was sagen, mir war's bei zwölfen grad' schon genug." Ich verstand das so: von den 18, denen Sie den Vortritt lassen, sind nun auch No. 17 und 16 weg, mit 12 aber sei es Ihnen genug! Worin soll da für mich ein Trost sein? Au contraire! Endlich ging mir ein Licht auf: statt Trost konnte man auch Frost lesen! - Das hübsche: "über ein Stündlein" kenne ich freilich. Vor etwa 20 Jahren habe ich die Ballade: "Das TaI des Espingo"[1] von Heyse komponiert, das Stück hat die Runde durch die ganze (deutsche) musikalische Welt gemacht und ich wurde mit dem Dichter befreundet. Später kamen wir etwas "auseinander" (aber ohne Feindschaft) da unsere Charaktere nicht recht zusammenpassen. Da ist denn doch "unser" Dichter ein viel tieferes Gemüth, wenn auch nicht so fein frisiert und gestriegelt; viele der Greif'schen Dichtungen wirken auf mich so, als seien sie mit Herzblut geschrieben - doch das ist vielleicht nur individuell. Wie wunderbar ist: "Ihr Händedruck" - oder: "Ihr Grab" - oder: "Im Walde" ...- solche Töne findet sonst keiner der lebenden deutschen Dichter, d. h. für mich! Und diese wunderbare Kürze! Greif war eine Zeit lang gesinnt, nach Berlin überzusiedeln; das soll er ja nicht thun: Pflanzen seiner Art können ihre Nahrung nur aus süddeutscher Erde saugen. Ein FranzSchubert wäre in Berlin gar nicht denkbar; und wenn ich das einem liebenswürdigen Berliner Kinde schreibe (das ich so hoch schätze) so ist da nichts beleidigendes dabei, denn Ihr habt andere und grössere Vorzüge - aber speziell den Ton in Gedicht und Musik, welchen ich meine, kennt Ihr nicht! Einem Musiker könnte ich mich leicht verständlich machen: ich würde ihm die drei Melodien Mozart's aus Don Juan vorspielen: "La ci darem" - "Vedrai carino" und "Batti, batti bel Masetto" - und würde sagen: "Mich ergreift's bis zu Thränen, aber Euch fehlt das Organ, diesen Zauber zu fassen!" So hatte der so hochbedeutende und vorurtheilslose Musiker H. v. Bülow gar keinen Sinn für Mozart's Requiem, wie er mir selbst bekannte. -

Sehr amüsierte mich zu vernehmen, dass Sie in Ihrem Zimmer Alles laut lesen, deklamieren und Zwiegespräche halten. In diesem Falle werde ich mich in meinen Briefen doch manchmal (jetzt) moderieren müssen, denn wenn dieselben auch nichts Unrechtes enthalten, so eignet sich doch dies und jenes nicht gerade für lauten Vortrag, d. h. ist wenigstens nicht dafür bestimmt. Meinen Sie nicht auch? -

Da wohnte neben uns in Kreuth in den siebziger Jahren ein Diplomat (früher Gesandter im Haag) ein Herr von Sigmund, der übte sich immer nach Tisch laut in französischen Ansprachen an Majestäten und hatte wohl keine Ahnung, dass man in unserem Zimmer jedes Wort verstand. "Sire! Votre majeste!" fing er jedesmal an und Miez in ihrem Muthwillen machte die entsprechenden Gesten und Antworten; es war zum Todlachen! Darum Vorsicht - man weiss nie, wer zuhört!-

War eben ein junger talentvoller Bildhauer da, der mir eine ganze Stunde lang seine Schmerzen vortrug und mich hinderte, mit Ihnen zu plaudern, was wieder mir schmerzlich war - ach! ich kann ja weder Anderen noch mir selbst helfen - wenn man mir wenigstens nicht meine einzige gute Zeit mit Klagen verderben wollte. Ich klage ja auch nicht Anderen, stundenlang vor - höchstens einmal ein klein wenig meiner hohen Gebieterin, die es schon gewohnt ist, sich hierin nachsichtig zu erweisen. Wenn ich Ihre Briefe nach meinem Sinn "graphologisch" lese, so finde ich auch Allerlei heraus, z. B. dass Sie gar nicht im Sinne haben, Erbtante werden zu wollen; besonders in Ihrem letzten Schreiben ist das ziemlich klar zu "deuten". Nun, das ist Ihr gutes Recht, und geht schliesslich nur die Betheiligten was an; heirathen soll man selbst, (wie "onser Wilhelmintje van der Neederland" betonte) da man ja die grossen Konsequenzen auch selbst zu tragen hat. Aber dass Sie bei dieser Gelegenheit sich so - muthwillig über die "verschrumpften alten Jungfern" mit ihrem kleinlichen Egoismus auslassen, hätte ich Ihrer so gütigen Gesinnung, die das Spotten sonst nicht so leicht nimmt (jedenfalls aber werden Sie die Lachenden auf Ihrer Seite haben) kaum zugetraut. Gewiss gibt es auch solche Exemplare, wie Sie sie geschildert; aber man hüte sich zu generalisieren! Ich habe "verschrumpfte alte Jungfern" gekannt, die durch stillschweigende Aufopferung ihrer selbst ganze Familien über Wasser erhielten, ohne Dank zu wollen oder zu bekommen. Aber die "Schande" des Sitzenbleibens? 0, das kann verschiedene, sogar sehr ehrenhafte Gründe haben; kennt man denn immer die Geschichte der Herzen? Wohl mag das für Manche nach aussen seine Bitterkeit haben, unbegehrt geblieben zu sein - wie oft ist da Armuth schuld, die ja sonst keine Schande ist. Es mag für das mittellose, unbegehrt gebliebene Mädchen bitter sein, zu sehen wie eine reiche Erbin ihres Geldes wegen hochmüthig und von Freiern umschwärmt, auf sie hinuntersieht, während sie edelsinnig ihr kleines Erbtheil mit einbrockte, damit z. B. ihr Bruder sich den Studien widmen konnte. Eine tiefe, unerwidert gebliebene Neigung kann Ursache sein, dass sie treu, wenn auch einsam bleibt; sie kann ja ihre Geschichte, die zugleich ihr höchster Schatz ist, doch Niemand erzählen. - Sie hat vielleicht, um die eigene Familie oder ihren Bruder vor Schande zu wahren, ihre Mitgift drangegeben, und ist in Folge dessen unbegehrt geblieben. Das sind alles Vorkommnisse, die täglich geschehen - viel öfter als man glaubt. Ich könnte sie leicht drei-, vierfach mit Namen belegen. All die genannten sind, zu ihrer Ehre sei es gesagt, Regel nicht Ausnahmen. Was Sie "kleinlichen Egoismus" nennen, kommt allerdings vor, aber noch viel öfter bei den Junggesellen. Hier findet sich der verknöchertste Egoismus häufig bis zur Virtuosität ausgebildet. Zugleich muss ich hier meine Überzeugung aussprechen, dass die Frauen im Ganzen besser sind, als die Männer; es ist dies beschämend, aber leider wahr. (Otto der Wahrhaftige hätte das verneint.) In der Aufopferungsfähigkeit sind sie uns sogar weit über. - Wenn Sie schreiben, dass die Frau sich nur dann ganz befriedigt fühlen werde, wenn sie für den Mann ihrer Wahl und ihre Kinder besorgt sein könne, so wird das zweifellos richtig sein; ich kann das natürlich nicht so beurtheilen. Jedenfalls ist das schöner und achtungswerther, als wenn sie sich emanzipationslustig geberdet. Aber wie sind wir auf dies Thema gekommen? Geht es denn wirklich schon auf No. 12? Oder nicht? Hänschen, das naseweise, hat gemeint, man müsse alle brieflichen Fragen beantworten. Ich bin nicht so grausam: ich meine nur die, welche man gerne beantwortet; und wenn ich Ihre Briefe durchsehe, so finde ich, dass Sie auch diesem Grundsatze huldigen. -

 

15. 1. Abends.

Gestern hatte ich ein komisches Intermezzo. Besuchte mich zu meiner Verwunderung eine entfernt bekannte Dame, die sich gerade nicht meiner besonderen Sympathie erfreut - auch konnte ich mir keinen Grund dieses Besuches denken. Sie erkundigte sich angelegentlich nach meinem Befinden, was ich ganz ausserordentlich höflich fand. Endlich rückte sie heraus: da Olga nicht mehr hier sei, biete sie sich an, mir die Haushaltung zu führen. Eine Gänsehaut ersten Ranges durchfuhr meinen ganzen Körper; ich war momentan sprachlos. Der Gedanke, diese Dame mit den drei Falschheiten (falsche Haare, falsche Zähne, falsches Herz) täglich in meinem Zimmer, an meinem Tisch zu sehen wirkte überwältigend - ich dachte an Dantes inferno. Sie verstand die Situation und entfernte sich wie ein begossener Pudel. Nachdem sich mein erster Schrecken gelegt hatte, musste ich laut lachen. - Meine hohe Gebieterin kann daraus ersehen, welche Gefahren so ein armer Einsiedler zu bestehen hat! Aber einen kleinen Gewinn hatte ich doch davon: ich lernte einsehen, dass Einsamkeit noch nicht der schrecklichste der Schrecken ist! -

Auf das obige ernste Thema zurückzukommen, diene zunächst die Erkenntniss, dass man durch das ernste "ja"! den grössten Theil seiner Selbständigkeit opfert: war man früher ein Ganzes, so ist man jetzt nur mehr eine Hälfte; d. h. als Frau gewöhnlich die bessere Hälfte; man übe und lerne gegenseitig Nachgiebigkeit und als Frau etwas sehr Schweres: Gehorsam "ohne Murren". Käthchen muss so zahm und gehorsam werden, dass es auf Befehl der stärkeren Hälfte am hellen Tag den Mond scheinen sieht! Das ist unter Umständen nicht immer gar so leicht! Je mehr man alle früheren Beziehungen und Freundschaften zurücktreten lässt, desto besser - denn an diesem Punkte ist schon manches Glück zerschellt, - kurz, es muss ein ganz neues Leben beginnen. 0, darüber wäre gar Vieles und Ernstes zu sagen! - "Aber pressiert denn das so?" fragt das naseweise Hänschen, das mehr als ihm gut ist, Alles wissen möchte. Hoffentlich nicht! Sollte es aber dennoch sein, so muss der Freund der hohen Gebieterin sich in das Unvermeidliche fügen und die Konsequenzen seines falschen Schrittes, die er ja voraus sah, zu tragen suchen. Und worin bestand dieser erste falsche Schritt? 0, das ist leicht gefragt und schwer zu beantworten. Er musste sich sagen: sei so klug, und behalte deine freundschaftliche Sympathie hübsch in deinem Herzen verschlossen, so schwer es dir auch wird, ergib dich nicht diesem Zauber; suche ihn lieber nach und nach zu ersticken, so lange es noch Zeit ist." So warnte vergeblich der Verstand, aber der "Dreiviertelverstandesmensch" widerstand nicht der Sprache des Herzens, das sich dem Zauber gefangen gab. Ich glaube dies Alles schreiben zu dürfen, da ja der Trafoier Horizont noch ohne Wölkchen ist, wie ich es schwarz auf weiss habe. Oder irre ich mich? -

Eben erhalte ich ein Telegramm, dass Olga's Mutter am 14. in der Irrenanstalt Kennenberg bei Stuttgart am Herzschlag starb. Die guten, armen Kinder! Diese sowohl, wie ihre nun beide verstorbenen Eltern so durch und durch edle und gute Menschen und dabei diese Fülle von Unglück! Dennoch sind sie voll Gottvertrauen und nicht verlassen, so lange ich noch lebe. Leider ist dadurch Olga auch für die Zukunft an ihr eigenes häusliches Anwesen gebunden, sodass ich doch isoliert bleibe! -

Frl. E. R. hat mich für den März nach Berlin eingeladen; das ist zwar sehr freundlich - aber ungefähr so, als wenn ich zu einem Picknick auf den "Schildenstein" geladen würde. Meine Reisepläne sind (wenn ich von solchen sprechen kann) viel einfacher - ich werde mich bescheiden müssen, "ohne Murren". (St. Paulus sagt irgendwo: "Seid gastfrei ohne Murren"). Dies Wort blieb uns als "Haushaltungswort" - wenn Miez etwas recht ungern that, so sagte sie: "Thu ich's halt ohne Murren". Solche Haushaltungsworte sind in jeder Ehe gut; sie bilden eine mildernde Nüance in gar manchen Fällen. Was aber die Poesie der Ehe anbetrifft, so muss man sie schon selbst mit einbringen, sonst wird man sie nicht finden. Miez hatte das merkwürdige Talent, Allem eine poetische Seite abzuzwingen: die nüchternste Stube z. B. wurde von ihr in kürzester Zeit durch Umstellen der Möbel, Drappierung der Vorgänge, Gruppierung der Bilder usw. zum wohnlichen, poetischen Gemach (mit Schmollwinkel)! Ich bring so was nie zu Stande!

 

16. 1. Abends.

Rathen Sie, wo ich jetzt eigentlich sein sollte? Auf dem heute stattfindenden Hofballe! Die Maximilians-Ordensritter sind nämlich "hoffähig" (einige auch hoffärtig) und haben deswegen streng genommen die Pflicht, die Hoffeste durch ihre Gegenwart zu "verschönen" - widrigenfalls sie sich schriftlich entschuldigen müssen. Miez ärgerte sich immer, wenn ich nicht hinging - hätte ich dann doch immer über die Damentoiletten referieren sollen. So schwach können die besten Frauen sein! Wie Sie sehen, kommen in jeder Ehe Meinungsverschiedenheiten vor; die müssen aber innerhalb 24 Stunden aus der Welt geschafft sein, sonst gibts schlecht Wetter; und schlecht Wetter innerhalb seiner vier Wände ist viel schlimmer, als draussen im Freien. -

Ich bin mit diesem meinem Briefe nicht zufrieden, und finde, dass er nie ganz das zum Ausdruck bringt, was ich eigentlich sagen wollte. Es ist aber auch nicht immer nöthig, dass man interessant zu erzählen weiss! Allabendlich spiele ich mir Ihr Lied: "Der Du von dem Himmel bist" - aber vergeblich: der "süsse Friede" will sich nicht einstellen - Deinetwegen! Es hilft diese Musik nur, die schwere Stimmung zu vertiefen. Eines habe ich nicht ungern: kosmopolitische Besuche; an diesen fehlt's fast nie. Soeben war der Direktor des Conservatorium's von Athen (ein früherer Schüler von mir) da, der mir durch sein zerstreuendes Gespräch heute sehr angenehm war: somit kann ich wenigstens in Gedanken reisen. Wenn ich das Letztere thue, so reise ich allerdings am liebsten nach Berlin, wenn auch nicht aus musikalischen Gründen, - komischerweise kann ich den Namen dieser Stadt gar nicht mehr hören oder lesen, ohne meiner hohen Gebieterin zu gedenken. Ich hatte gedacht, dass Sie bei der strengen Kälte dem Schlittschuhsport huldigen würden; der von Ihnen angeführte Hinderungsgrund ist allerdings gewichtig. Genau in demselben Falle war Miez; doch entschädigte sie sich dafür durch's Schwimmen, das sie erst im 38. Jahre lernte und es dennoch darin bis zu grosser Meisterschaft brachte, - im Gegensatz zu mir, der ich allerdings durch die kranke Rechte sehr behindert war. (Aber wie kann man auch bei 16 Grad Reaumur unter Null vom Schwimmen reden!)

 

Den 17. 1. Mittag.

Nach meiner Berechnung erhalte ich morgen (Freitag) einen Brief von meiner theuren Freundin - "wenn's aber nit sein kann" muss ich mich eben gedulden, wie so oft im Leben. Sie haben so viel mehr gesellige Pflichten als ich, dass Sie im Vorhinein entschuldigt sind.

 

17. 1. Abends.

Wissen Sie, was mich an Ihrem letzten Briefe vom 8. d. am meisten gerührt hat? Es ist die unbefangene echte Freude, die Sie über Empfang und Inhalt meines vorletzten Schreibens aussprechen! Wie gerne möchte ich Ihnen immer Freude machen! Ich glaube auch, gegen Andere gütiger und liebevoller zu sein, seit mir das Glück ward, Sie kennen und hochschätzen zu lernen;

 

18. 1. Abends.

Auch diesmal hat mich meine Berechnung, einen Brief von Ihnen vorzufinden im Stiche gelassen. Also morgen, oder längstens Sonntags. Wenn aber dann nicht? Sie sehen, auf wie schwachen Füssen meine ganze Philosophie steht. Wenn Sie nun krank wären, würde ich nicht einmal etwas davon inne! Da fühle ich erst so recht, wie unendlich theuer Sie mir geworden sind! Aber jetzt schon ängstlich geworden zu sein, ist recht thöricht von mir, - und Sie werden es schliesslich komisch finden, denn Sie haben ja noch keine Verluste erlitten, und in Ihrem glücklichen Alter (oder sagen wir lieber: in -Ihrer glücklichen Jugend) ersetzt sich Alles, mit Ausnahme der Eltern, leicht wieder. Unser einer ist schlechter daran - verloren ist gestorben - das kommt und ersetzt sich nie wieder: man sucht und macht keine neuen Freundschaften mehr; hält aber das Liebgewordene um so fester; wenn das aber abbröckelt, geht immer ein Stück Leben mit. -

 

19. 1.

Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief, den ich gleich beim Nachhausekommen um 10 Uhr vorfand. Meine Frage, wann Sie zuerst in Kreuth waren, ist dadurch erledigt. Dann kenne ich Sie also schon seit 16 Jahren? Da haben Sie sich ja merkwürdig verändert! Wenn die Veränderung so andauert, werden Sie mich wohl bald (wollte schreiben: werde ich Sie wohl bald) nicht mehr kennen! - Das ominöse Wort, das Sie sprachen: ...Wer weiss, vielleicht, dass unsere äusseren Wege sich noch mehr trennen...", das Sie dann so liebenswürdigerweise mit dem "Trafoier" Kärtchen "wett" machten, geht mir seit Lesung des heutigen Briefes wieder im Kopfe herum - es ist ein leise befremdender Zug in demselben, der in den vorhergehenden Briefen nicht war - es ist ein kleiner Ruck vorwärts auf jenem "äusseren Wege der Trennung". Das ist aber nicht entfernt ein Vorwurf; dass es mir aber nicht unerwartet war, ersehen Sie aus dem, was ich Seite 5 (schon drei Tage vor Empfang Ihres Briefes) geschrieben habe. Sie werden mich misstrauisch finden; wer Viel verloren hat, wird leicht misstrauisch - und auf die "Erweiterung" jener Trennung muss ich ja jeden Tag als vernünftiger Mensch gefasst sein. Ob's weh thut, kommt nicht in Frage. - Warum haben Sie, entgegen Ihrer Gewohnheit auf der äusseren Seite des Briefkouverts diesmal Ihre Adresse nicht angezeigt? Sie sehen, auch Hänschen ist misstrauisch und will bei Allem wissen, warum? Mir war's ja so "heimelig". - Manches in diesem Briefe ist vielleicht nicht mehr ganz "zeitgemäss", d. h. durch Ihr heutiges Schreiben dazu gemacht. Sie klagen, dass Sie sich so grenzenlos einsam und verlassen fühlen, während all Ihre Angehörigen sich doch paarweise näher stehen, sodass Sie das Verlangen packt, auch nicht immer nur für Andere da zu sein usw. usw. Wenn ich vielleicht nicht gerade die rechte Persönlichkeit bin, Ihnen hierin zu rathen, so weiss ich doch nichts Anderes, als worauf Sie wohl selbst kommen werden, d. h. einen passenden Gefährten für's Leben zu wählen, was bei Ihrem so grossen Bekanntenkreis und all den günstigen Umständen nicht zu schwer sein wird. Ich kann es ganz gut verstehen: es ist die Stimme der Natur, die in Ihnen spricht; schweigt sie vielleicht morgen, so wird sie sich übermorgen umso geltender machen. Das was ich Ihnen war, ist ja so eng begrenzt, dass es in dem langen, vor Ihnen liegenden Leben keine grosse Rolle spielen wird; ich glaube wenigstens, dass ich mir keinen ernstlichen Vorwurf zu machen habe. Wenn Sie meinen vorigen Brief (und manche der früheren Briefe) aufmerksam lesen, wird Sie dieser nicht zu sehr überraschen. Ich erinnere Sie nur an das scherzhafte "Preisrätsel", warum mir 17 lieber als 21 wäre. Aber vielleicht ist es Ihnen nicht angenehm, wenn ich mich hier über die Seelenstimmung, in der sich meine verehrte Gebieterin zur Zeit befindet, verbreite; und doch sagt sich am Ende jetzt Manches leichter, als später. Sie nennen sich selbst launenhaft; wenn Sie in Ihren Briefen, nach denen allein ich urtheilen kann, auch nicht immer ganz konsequent sind, so nenne ich das noch nicht launenhaft; ich bin ja auch in meiner Korrespondenz bald (nicht gerade himmelhoch-) jauchzend, bald zu Tode betrübt; Stimmungen wechseln bei sensitiven Menschen je nach den Ereignissen, die einem in's Herz greifen, desswegen darf man ihnen Ausdruck geben, ohne launisch genannt zu werden. Mir z. B. hat Miez immer es hoch angerechnet, dass ich mich nie launisch gezeigt hätte, worin sie sich nicht immer ganz frei fühlte. - Eigentlich fühle ich mich jetzt etwas befangen und verlegen, dieses Thema fortzuspinnen; war ich früher sicherer, so ist das nun vorüber; ich habe doch mit Ihrer Seelenstimmung (was Sie ungerecht Laune nennen) zu rechnen, und fürchte mehr als je bei diesem oder jenem Wort gründlich missverstanden zu werden - es ist dies leider wieder eine der Konsequenzen meines berufenen ersten falschen Schrittes. Nochmals muss ich Sie bitten zu berücksichtigen, dass ich die ersten Seiten vor Empfang Ihres heutigen Schreibens niederschrieb, wodurch sich Manches nicht mehr passt. über das Wort "Philister" vielleicht das nächstemal; ich bin heute nicht zu grossem Scharfsinn geeignet - es liegen auch noch andere briefliche Aufgaben vor mir. Wenn ich in dem Vorstehenden vielleicht da oder dort nicht immer den entsprechendsten Ausdruck fand, so wollen Sie mit mir desshalb nicht zu streng verfahren und mir freundlich vergeben, denn sei meine Gemüthsverfassung, welche sie wolle oder sein kann - gut und ehrlich ist Alles gemeint. Ihr Billet an Herrn König lege ich, als nicht mir gehörend, bei. -

Mein heutiges Lampenstündchen geht auch zu Ende, wie der Briefbogen - das Tageslicht dauert jetzt Abends länger - es waren diese Stunden eigentlich mir die einzigen glücklichen des ganzen Tages während des bisherigen Winters; so hat auch die Jahreszeit ihren Wechsel und nichts ist beständig, als die Veränderlichkeit!

Mit herzlichem Lebewohl und innigem Grusse
einer hohen Gebieterin
ergebenster

J. Rh.

Sonntag, den 20. 1. früh 8 Uhr.

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[1] «Das Tal des Espingo» = Ballade für Männerchor und grosses Orchester, op. 50, komp.