München, Samstag 10. 11. 00.
Sommer-Idyll
Dem theuren Freunde in's Stammbuch.
Wenn man von der "Marienruhe"[1] etwa dreihundert Schritt auf dem Wege zur Hohlensteinalpe weitergeht, findet man rechts, etwas vom Pfad abweichend eine Bank, dicht am Rande des tiefliegenden, durch die Felsen sich windenden Baches. Es ist ein trauliches Plätzchen, das ich an schönen, thaufrischen Morgen gerne aufsuche. Ist man nun gar etwa in Folge eines Abschiedes, oder irgend einer sonst herzbewegenden Ursache schwermüthig gestimmt, so kenne ich nichts Heimeligeres. Am 13. August, zwei Tage nach dem Abschied meines jugendlichen Freundes (ich habe nur den Einen, darum hüte ich ihn wie meinen Augapfel) - ging ich dorthin, um ganz ungestört meinen Träumereien nachhängen zu können. So herrlich der Morgen, so einsam die Wanderung; ich sah in Gedanken noch die Abreise des Theuren; sein hellbraunes Reisewamms, das kecke Hütchen mit einer rothen Blume geschmückt, das herzliche "Behüt dich Gott" - (Er gab mir ein Vergissmeinnichtsträuschen; als wenn ich ihn vergessen könnte!) - ich musste der abwärtsschreitenden schmucken Gestalt so lange nachsehen, bis die Krümmung des Weges ihn den Blicken entzog; Greif's "ahnungsloser Abschied" kam mir immer wieder in den Sinn. Langsam in meine Kammer zurückkehrend, erschien mir dieselbe noch öder als sonst; und wenn ich wohl zuweilen heiter sein kann, in dieser Stunde, war ich's weiss Gott nicht; ich presste sein Sträusschen an die Lippen, hoffentlich hat es Niemand gesehen; dann nahm ich ein Buch zur Hand - aber die Buchstaben verschwammen ineinander, das kam wohl von dem schlechten Tageslicht - da ging ich hinüber an sein Kammerfenster; es war offen; ich warf einen Blick in den leeren Raum und flüsterte seinen Namen - in meiner Ruhelosigkeit setzte ich mich im Herzogwäldchen genau an den Platz, wo wir erst vor kurzem plauderten - auch Mittags bei Tische wusste ich seinen Platz zu erobern; ich hätte ihn sonst Niemandem gegönnt. Was half's? Die Entfernung zwischen uns wurde ja doch in jeder Minute grösser.
"Lebe wohl, du junges Blut, sei glücklich; und wenn ich von dem mir etwa noch beschiedenen Glücke (Viel wird's nicht sein!) ein gut Theil dir zuwenden könnte, dir wär's von Herzen gegönnt!" - Waren wir denn immer eines Sinnes in allen Dingen, da wir so gut befreundet? Leider nicht; der liebe Trotzkopf konnte manchmal sogar recht eigensinnig auf seinen Ansichten beharren, selbst wenn er heimlich von deren Richtigkeit nicht ganz überzeugt war; es ist eben ein der Jugend eigener Stolz, lieber mannhaft zu leiden, als nachzugeben. War ich denn seinerzeit viel anders? Man nehme das nicht zu schwer. Doch einmal nahm ich's schwer; es handelte sich in unseren Gesprächen um das Fundament aller Grundsätze, die Religion; mein junger Freund war damit schnell fertig, er verneinte gar Alles, verbat sich jede Einrede in seine Grundsätze: "Es hülfe ja doch nichts" - ja er verstieg sich zu meinem Schmerz in seinem Übermuth zu dem frivolen Wort: "Er wolle das mit dem Herrgott selber abmachen!" Der bluthjunge Thor! Er will mit dem höchsten Wesen, von dem er zeitlebens nur Gutes empfangen, unterhandeln, wie weit er ihm noch Anerkennung schenken wolle, oder auch nicht; er hatte dies nämlich in einem schlimmen Buche gelesen, als er schlechter Laune war, und das hässliche Wort hatte ihm imponiert. Vor dem der Charakter eines Mannes nicht Festigkeit gewonnen, ist so eine negierende, zerstörende Lektüre Gift; Alles Neue, welcher Art es auch sei, wenn es in bestrickendem Gewande, der Selbstliebe, schmeichelnd von dem jungen Gemüthe aufgenommen wird, wirkt zerstörend; die religiösen Eindrücke verblassen, man schämt sich vor anderen der Religion selbst, man hasst sie endlich - man sucht den Mahner im Innern: das unbestechliche Gewissen, zu beschwichtigen, ja anzulügen; wie ein Gespenst stellt es sich immer wieder ein, warnend und drohend; der Arme, von seinem Gott verlassen, versinkt in Pessimismus und fühlt sich immer unglücklicher, indem er die Kraft zur Umkehr nicht mehr finden kann.
Der Gedanke, dass mein Freund, den ich um seiner sonstigen hohen und durchaus edlen Eigenschaften willen so sehr liebte, als wäre ein Theil meiner selbst - diesen Weg wandeln könnte, und mir dadurch verloren sei, liess mich laut aufschluchzen - ich schäme mich nicht, es zu sagen. Doch habe ich begründete Hoffnung, dass er zu mir zurückkehren wird, ja ich weiss es gewiss, denn er ist im Kern zu edel und wahrhaftig, und Etwas gelte ich ihm denn doch auch. Will ich etwa seine Geistesfreiheit unterdrücken, ihm nur das zu glauben erlauben, was ich selbst glaube? Gott bewahre! er soll sich nur nicht leichtsinnig der einzig festen Grundsätze entäussern, die ihm allein die Garantie seines künftigen Glückes bieten. Wenn sein Charakter (in wenig Jahren) die nöthige Widerstandskraft gewonnen haben wird, mag er ohne Schaden jene Bücher lesen, die jetzt Gift für ihn sind; ja er kann sogar daraus noch lernen! -
Während ich so denke und sinne, die Schmetterlinge in der goldenen Sonne um mich herum gaukeln, höre ich nebenan ein leises Geflüster: es waren zwei Ameisen auf der Bank neben mir, ich spürte sogar den säuerlich prickelnden Duft des "Ameisengeistes" - dann hörte ich deren Gespräch mit Verwunderung zu, (in der Träumerstunde verstehe ich nämlich alle Thiersprachen, selbst die der Ameisen). Zuerst lobten sie gegenseitig und mit grosser Selbstgefälligkeit ihren "Ameisengeist", auf den sie stolz zu sein Ursache hätten, und der in der Welt noch einmal eine grosse Rolle spielen würde. Dann sagte Formica A: Leider sei ein grosses Hindernis vorhanden, das den Geist der Ameisen in seiner Entwicklung hemme. Formica B stimmte überein: dieses Hindernis müsse um jeden Preis weggeschafft werden, denn es verfinstere die Luft der Aufklärung und verwehre der ganzen intelligenten Ameisenschaft den freien Blick in die Ferne. Auf diese Weise sei überhaupt kein ameisenwürdiges Leben möglich! Die beiden gaben sich nun die Fühler (Hände) und stifteten eine Verschwörung zur gewaltsamen Hinwegschaffung an: "Heute noch nehmen wir ihn in Angriff, diesen infamen – Blauberg!" Also auf den Blauberg war es abgesehen! Mein Erstaunen war grenzenlos! Ich sah näher hin und erkannte die Phisionomien des edlen Paares; die Eine hatte einen stark semitischen Ausdruck: ja richtig, es waren zwei Autoren der schlimmen Bücher, welche mit Verdächtigung des göttlichen Ursprungs des Christenthums meinem Freund so sehr imponiert hatten - "Ja, guten Morgen, lieber Professor. oder wie man Sie jetzt titulieren muss, - was treiben Sie denn da?" - "Ich komponiere" - "Dacht' ich mir's doch; aber ich sehe kein Notenpapier?" - "Ich denke mir das Stück erst aus, meine gnädige Frau! und schreibe es dann für einen lieben Freund auf" - "0, wie interessant! Und wie heisst der Freund?" "Das ist mein Geheimnis"! "Guten Morgen"! "Guten Morgen!" Frau P. hatte der Idylle ein Ende gemacht! -
11. 11. 00.
Meine theure Freundin!
Heute ist es ein Vierteljahr, dass Sie mir den Vergissmeinnichtstrauss übersandten; habe ich Ihrer vergessen? Ich sah Sie zuletzt im Wagen, dort wo die Biegung der Achenthalerstrasse beginnt - lachen Sie nur. - Die Erinnerungen an Sie bilden mein grösstes Glück! Warum hat das Schicksal es meiner Frau und mir versagt, eine solche Tochter zu haben? Thörichte Frage - es ist die alte Geschichte: das Herz will Nahrung und die Vernunft bietet ihm einen Stein. Ist das freundliche Gartenbildchen aus Kreuth? Datum vom 5. 8. 98 spricht dafür. Da war es wohl 1897, dass Sie nicht dort waren, denn in einem Sommer blieben Sie aus. Schade, dass das Gesicht zu sehr verdeckt ist; selbst mit Hilfe der Lupe ist es kaum ersichtlich - d. h. ich hätte es trotzdem unter Hunderten gleich erkannt. Wenn Sie Ihren Namen darunter gesetzt hätten, wäre es mir noch lieber, doch ich bin auch so zufrieden. - Die Erkrankung Ihres Herrn Bruders muss doch recht ernstlich gewesen sein, da Sie so lange Ihre verehrte Frau Mama entbehren müssen!?
Heute, Sonntag, ist abscheuliches Wetter; so dunkel, dass ich jetzt um 3 1/Z Uhr beim Lampenschein an Sie schreibe. Heute ist es ein Vierteljahr, dass wir uns zuletzt sahen. Wie beglückend für mich, dass wir uns brieflich dennoch näher kamen; es ist mein inniger Wunsch, dass es immer so bleiben möge! Die Stelle in Ihrem Briefe: "Deshalb kann ich mir auch kaum die Erfüllung eines Wunsches, der ausserdem nach Ihrer Ansicht unserm brieflichen Verkehr ein Ende macht - erbitten" ist mir ganz unerklärlich, so sehr ich meinen armen Kopf damit beschäftige! Sie sagen, Sie möchten nicht alt werden? Das ist ja ein freventlicher Wunsch - man ist überhaupt in der Jugend sehr freigibig mit den "Jahren", später lernt man "sparen" (eigene Erfahrung!). Sie sollen und werden das Glück der Ihrigen ausmachen bis in späte Zeiten und darin Ihr eigenes Glück finden, das ist auch mein inniger Wunsch! Jeder sensitive Mensch macht in seinen zwanziger Jahren eine gewisse (zur Sentimentalität und Schwermuth neigende) Sturm- und Drangperiode durch, worauf der Charakter eine beruhigende Abklärung erfährt. -
[Autograph „Glück“von Martin Greif eingeschoben]
Wiederholt beunruhigt mich Ihr Wort, dass jeder meiner Briefe Sie traurig stimme, auch wenn er heiter sei. Ich kann das nicht fassen, denn wenn ich auch zugebe, dass ich im Grunde seit dem Tode Fanny's Melancholiker geworden bin, so doch nicht in dem Grade, dass ich mich anderen Eindrücken verschliesse - wie wäre ich sonst dazu gekommen, Sie so tief, so innig zu verehren? Vielleicht war es Unrecht, von mir, Ihnen kein Hehl daraus gemacht und Sie dadurch beunruhigt zu haben? ich könnte mir das schliesslich erklären; dann kann doch Sie in keiner Weise ein Vorwurf treffen, da Sie gewiss nie über die Natur meiner Verehrung im Unklaren waren. Also keine Traurigkeit! Auch der heitere Gegensatz in meinen Briefen fehlt manchmal nicht - war die Beschreibung meines Dichters nicht lustig? - Die Bemerkung "stählerner Charakter" scheint Ihnen aufgefallen zu sein - ich werde Ihnen im nächsten Briefe deren Begründung bringen, da ich für diesmal nicht mehr Zeit finde. Ermüden Sie meine langen Briefe nicht? Jedesmal nehme ich mir vor, kurz zu sein, und dann werden es doch 6 engstgeschriebene Seiten! und wenn ein Brief von Ihnen kommt, schaue ich immer zuerst, ob er nicht etwa kürzer als der Vorige (wehe! wenn das der Fall wäre) sei, dann sehe ich nach der Unterschrift, ob Sie mir noch so wohl gewogen - erst dann lese ich. Hat sich Ihr Briefträger noch nicht über vermehrte Arbeit beklagt?
Werde ich heute (Montag, d. 12.) Nachricht von Ihnen bekommen? wie sehne ich mich darnach!
12. 11. Abends -
Kein Brief; wäre der Zeit nach auch kaum möglich - also wahrscheinlich morgen. Störung durch einen sonst so lieben Besuch - er sprach unter Anderm mit Begeisterung von einer Madonna von Sassoferato[2]; als er fertig war, lachte ich (wir sassen am Schreibtisch) und sagte: "Da sieh hinauf!" Ich besitze nämlich einen der schönsten Sassoferatos, welche existieren - Madonna mit dem Christkind, von ganz unbeschreiblichem Ausdruck; es ist das kostbarste meiner Bilder und wird auf Fanny's Wunsch nach meinem Tode der alten Pinakothek einverleibt[3]. Die Verwunderung meines Gastes machte mir viel Spass. Ich glaube, es wäre aus mir ein leidenschaftlicher Maler geworden, wenn es das Schicksal gewollt hätte. Aber jetzt noch umzusatteln, dürfte unpraktisch sein, meinen Sie nicht, meine verehrteste Freundin? -
13. 11.
Endlich ist er gekommen, der liebe, theure Brief! ich erschrecke oft über die Heftigkeit meiner Empfindungen und that mir sonst soviel darauf zu gut, mich beherrschen zu können; das kann wohl krankhaft sein und mit meiner Schlaflosigkeit zusammenhängen. Heute hatte ich eine sehr gute Nacht: ich schlief zwei und eine halbe Stunde, was wohl seit drei Wochen nicht vorgekommen - schliessen Sie daraus auf das übrige! - Sie fürchten, gar zu viele "ich" gebracht zu haben - ich aber fürchte, dass Sie gar nicht wissen, wie theuer mir jenes "ich" ist - es ist auch schliesslich besser, dass Sie es nicht wissen! Sie brauchen es auch nicht zu wissen! Auf der zweiten Seite dieses Briefes ist ein Wunsch nur angedeutet, dessen (für Sie leichte) Erfüllung mich sehr glücklich machen würde. Rien de plus. Wie werden Sie sich nun auf das Wiedersehen mit den Ihrigen freuen! Man lernt das erst schätzen, wenn man Niemand Eigenes mehr hat. Sie sprechen vom Wiedersehen in Kreuth - daraus schliesse ich, dass Sie bis jetzt keinerlei Hindernisse für Sie kennen! Es ist nun ein Vierteljahr (welchen Inhalt birgt dieser Zeitraum für mich!) dann noch ein Vierteljahr, und noch eines! "Wie mich oft erschreckt - Schon der Stundenschlag" wie oft wird die Stunde noch schlagen müssen! - Ob ich Otto Scherzer gekannt, den aufrichtigsten, wahrheitsliebendsten aller Grobiane? Von dem könnte ich Ihnen viel "vertellen", aber nicht mehr in diesem Briefe, der nur von "ich zu ich" sprechen soll. Wenn ich diese Zeilen heute noch fortsende, haben Sie dieselben schon morgen früh - das ist ja fast, als ob ich persönlich zu jenem "ich" von dem oben die Rede war, spräche! Mögen alle Ihre Briefe den milden, liebenswürdigen Ton athmen, wie der heutige - solange es möglich - Unmögliches kann ich ja nicht verlangen; möge aber noch recht lange keine Änderung in unseren Verkehr treten, der zwei sympathisierende Seelen verbindet, obschon sie durch eine weite Kluft getrennt sind!
13. 11. Mittags.
Mit Gott Ihr treu ergebener
Jos. Rheinberger