Langer Brief Rheinbergers über diverse Themen u.A. Literatur, Poetik und Musik.


München, 26. 9. 00.

Sehr verehrte Freundin!

Es macht mir immer Freude, wenn Sie von Ihren geistigen Beschäftigungen und Bestrebungen berichten und wird mich auch interessieren, welche kunstgeschichtlichen Werke Sie bevorzugen. Ich kann leider diesem Felde nur wenig Zeit opfern, besuche aber der alten Meister wegen gerne die Pinakothek. Gestern war ich in der grossen Kunstausstellung im Glaspalast und zwar mit dem guten Vorsatz mich nicht zu ärgern, was mir auch theilweise gelang. Im Ganzen aber ist es wirklich erschreckend, wie die Degeneration der modernen Malerei und Musik parallel läuft! man kann die Ähnlichkeit der Erscheinungen bis in's Detail verfolgen und kommt unwillkürlich zu dem Schlusse, dass es Zeiten geistiger Epidemien gibt. Ja man kann in diesen Bereich ebenso die neuen lyrischen und dramatischen Erzeugnisse (auch den Roman) einbeziehen und wird überall dieselben Wahrnehmungen machen. Die Vergötterung des Schlechten, die Verkehrung der Begriffe über das Schöne, in der Kunst hat einen Grad erreicht, dass man an sich selber irre werden könnte. Gut, dass wenigstens Grundpfeiler wie Mozart, Beethoven, Dante, Shakespeare nicht so leicht umgeworfen werden. In Betreff des Letzteren, der noch thurmhoch unsere deutschen Klassiker überragt, möchte ich Sie fast um Ihre Gewandheit im Englischen beneiden, wenn ich nicht von Natur aus neidlos wäre. Im verflossenen Winter, als ich mich eine zeitlang nicht mit Musik beschäftigen sollte, las ich die sämtlichen Königsdramen Shakespeares in chronologischer Reihe durch und war erstaunt über die unglaubliche Seelenkenntnis, Weltweisheit, dramatische Genialität und tiefe Moral dieses Grössten aller Dichter. Was dagegen heutzutage für kurzlebige Waare mit Hilfe einer feilen Presse sich spreizt und wichtig macht - es wäre lustig mit anzusehen, wenn nicht das Schlechte so oft momentanen Erfolg hätte und neun Zehntel des Publikums absolut urtheilslos wären.

Und wie selten sind erst wahrhaft ideale Menschen geworden - ist doch Idealität ein Stück Paradies auf die Erde verpflanzt! Unter meinen vielen, vielen Schülern weiss ich nur Einen, dem ich diese Eigenschaft als Freund und Künstler voll zugestehen konnte, der mir mit rührender Anhänglichkeit zugethan war und mich in Kreuth gerne aufsuchte: (Prof. Jos. Gierl, gest. im Frühjahr 1893) er musste natürlich jung sterben! Es war mir das umso schmerzlicher, als er, schon sehr brustleidend, gegen mein dringendes Bitten an dem Begräbnisse meiner lieben Frau theilnahm und bei der furchtbaren Kälte (2. 1. 1893) seinen Zustand ernstlich verschlimmerte. Fast gleichzeitig verlor ich meinen letzten Bruder - es war ein böses Jahr, wo Schlag auf Schlag fiel. Ich war aber damals wie betäubt und die Nachwehen stellten sich prompt ein: die geringste Aufregung oder körperliche Anstrengung rächte sich seit dem durch beängstigendes Herzklopfen - medizinisch genommen habe ich also nun ein schlechtes Herz - man hüte sich vor mir! Durch eine einfältige Besteigung der Königsalpe bei grosser Hitze holte ich mir noch das Blutspucken und bin seitdem auf die Ebene angewiesen: der Hohlenstein ist für mich ein unersteigbarer Montblanc geworden. („Ist das ein trauriger Brief,“ werden Sie sich denken!) - Also geneckt werden Sie, meine verehrteste Freundin, wegen Ihrer Vorliebe für ältere Freunde? Da bin ich ja sehr stolz darauf, mich zu diesen zählen zu können! Im Grunde thut das nichts, denn geneckt wird man nach meiner Erfahrung nur von Personen, die Einem wohlwollend sind, z. B. von seinen Angehörigen. So was nimmt man mit gutem Humor hin. Humor würden Sie auch darin finden, wenn Sie sähen, wie ich zweimal in der Woche mit strengem Gesicht die Küchen- und Haushaltsrechnungen meiner Sklaven (scheinbar) aufs genaueste durchsehe, während ich in Wirklichkeit an ganz andere Dinge denke. Auf Olga[1] werde ich heuer wieder nicht rechnen können - ihre ältere Schwester Hermine (die sehr begabt war) wurde vor 2 Jahren in Folge einer schweren Gehirnkrankheit irrsinnig; ihre Mutter nahm sich das so zu Herzen, dass sie demselben Schicksal verfiel (ist das nicht schrecklich) und in eine Irrenanstalt in Württemberg gebracht werden musste. Das Alles musste die arme Olga mit ihrer jüngeren Schwester Emma besorgen, nebst allen Haushaltsgeschäften, die bei einem Weingut sehr kompliziert und schwierig sind. Nun habe ich allerdings noch einen Neffen[2], der als Bildhauer in Wien lebt und dort unabkömmlich ist. Als einzige Verwandte gehören die Kinder meines verstorbenen Bruders auch mir; leider konnte ich Olga nicht behalten und habe wenig Aussicht, sie wieder zu bekommen, obschon sie auf Besserung ihrer Mutter hofft und gerne wieder zu mir käme. Sie ist eine wahre Perle von Mädchen und hat in verzweiflungsvollen Stunden, in welchen mancher Mann den Kopf verloren hätte, sich bewundernswerth energisch und klug benommen. Sie sehen, meine theure Freundin, dass ich vorigen Herbst alle Ursache hatte, meinen Aufenthalt in Kreuth melancholisch zu finden, selbst abgesehen von dem eigenen Gesundheitszustand, der jetzt noch in fast vollständiger Schlaflosigkeit gipfelt. Sie waren so theilnahmsvoll, sich nach meiner Nichte zu erkundigen; um verständlich zu sein, musste ich das ganze traurige Panorama entrollen. Sie sind ja wohl die einzige Seele, die wirkliche Theilnahme für mich hat - und das weiss ich hoch zu schätzen. - Ob meine Frau musikalisch gewesen sei? Gewiss; in höchstem Grad - sie war vorzügliche Klavierspielerin, noch bessere Sängerin mit schönem grossem Mezzosopran von italienischer Schulung; ich habe damals viele, viele Lieder für sie geschrieben, die Niemand seelenvoller sang. Aber leider verlor sie die Stimme nach wenig Jahren infolge einer Halsentzündung. Auch im Orgelspiel versuchte sie sich mit Passion und vielen falschen Noten im Pedal. Als wir im Herbst 67 einmal an einem schönen Mondscheinabend in Tegernsee ein Schiffchen bestiegen nahm sie die Zither (die sie fertig spielte) mit und sang auf dem See oberbayrische Volkslieder mit dem wechselnden Übermuth und der Melancholie. Es war ein ächt poetischer, unvergesslicher Abend: über dem Blauberg der Vollmond, das von den Rudern abträufelnde, silberne Wasser, die weiche Luftströmung, die gespenstigen Schatten am Ufer - und - last not least: das jung erreichte Glück - das machte mir unvergesslichen Eindruck! Sodann sang sie noch Gondellieder in venetianischem Dialekt, den sie bei ihrem fabelhaften Sprachentalent nach einem Winteraufenthalt in Venedig vollkommen beherrschte. Viele grössere und kleinere Dichtungen, die ich in Musik setzte, wurden von ihr verfasst; dabei besorgte sie mir Übersetzungen aus dem Latein und Spanischen, Französischen und Italienischen und Englischen, alles vortrefflich mit gleichem Geschick. Sie zeichnete ausserordentlich gut, besonders Karrikaturen. Und bei all dieser (gründlichen) Vielseitigkeit war sie ebenso tüchtige, wie liebenswürdige Hausfrau und von ächter, tiefer Religiosität. Ihre ganze Persönlichkeit übte besonders auf Frauen oft einen geradezu faszinierenden Eindruck. Das war Viel auf einmal, und doch buchstäblich wahr. Dass sie meine musikalischen Schöpfungen so sehr liebte, ja auswendig wusste, war selbstverständlich - war sie ja doch mit den meisten eng verwachsen. - Trotzdem war diese Vorliebe durchaus nicht blind, sondern mit scharfem kritischem Verstand gepaart. Oft, wenn ich am Klavier arbeitete, kam sie zögernd aus ihrem nebenanliegenden Zimmer, ging, die Hände auf den Rücken gelegt, fünf bis sechsmal um den Flügel, dann: "Du - ich möchte Dir gern Etwas sagen - aber sei nicht gleich bös - weisst, ich versteh ja nichts - gar nichts - das ist Alles so schön, was Du gespielt hast - aber diese Stelle da - nur diese vier Takte - gelt, die änderst Du ab - mir zu lieb - die sind Deiner nicht werth - so, jetzt bin ich schon still" - "Was, (sagte ich halb ärgerlich) diese Stelle ist ja gerade das Beste am Ganzen" - weg war sie, die Thüre zu. Wenn ich etwa anderen Tags bei ruhiger Stimmung die Arbeit wieder vornahm, musste ich mir heimlich gestehen, dass sie Recht hatte, und machte die entsprechenden Änderungen. Das kam wohl zwanzigmal vor. Dafür kritisierte ich ihr aber auch ihre Arbeiten unbarmherzig, was sie ebenso gut vertrug. Dieses ideale Zusammenleben und -arbeiten dauerte viele Jahre. -

Dass bei einem so lebhaften und rastlos arbeitenden Geiste Gefahr für die Gesundheit bestand, befürchtete ich längst; und als sie noch eine "slavische" Sprache erlernen wollte, erlaubte ich es nicht. Das traurige Geschick war aber nicht abzuwenden.

Die seltsame Stelle Ihres Briefes ... "von Kleinmuth bis zur Demuth ist's noch gar weit" - gab mir viel zu denken: warum sollen Sie kleinmüthig sein? Sie leben in dem glücklichsten Familienkreis; Sie sind, wie. ich in Kreuth beobachtete, von Allen die Sie kennen verehrt, und mit Recht weit über Ihre Jahre hochgeachtet. Wie ich Sie aus unserem leider so kurzen persönlichen Verkehr, dann aus Ihren mir so theuren Briefen kenne, hat gewiss Niemand so wenig zur Kleinmuth Ursache. Es ist ja recht, wenn man mit sich selbst nie ganz zufrieden ist; aber dies Gefühl soll nur ein weiterer Sporn zum Aufwärtsstreben, und nicht Anlass zur Muthlosigkeit sein. Trotzdem kann ich Ihr Gefühl recht wohl verstehen. Als ich in Ihren Jahren stand und sich da und dort ein gewisses Bangen vor der ungewissen Zukunft regte, verfiel ich oft in Mutlosigkeit, die sich bis zu einem krankhaften Heimweh steigerte; war ich ja doch eigentlich seit meinem zehnten Lebensjahre fast immer unter Fremden. Da war dann strenge Arbeit das einzige Gegenmittel, während die sogenannten Zerstreuungen und Vergnügungen die innere Unruhe nur schlimmer machten. Ich glaube, dass alle ernsthaften zum Nachdenken geneigten Naturen zu ihrem Heil diesen "Lehrkurs des Lebens" durchmachen müssen. - Und nun die Demuth! ich habe in meinem ganzen, langen Leben viel Hunderte von Menschen kennen und beobachten gelernt, und nur einmal (sage nur einmal) das, was man in gutem, christlichen Sinne "Demuth" nennt, gefunden; und diese seltene, demüthige Seele war - meine gute Mutter! Fast möchte ich glauben, dass bei der heutigen Erziehung und dem modernen Leben Demuth unmöglich geworden ist. Ebenso schwer möchte es sein, Jemanden zu finden, der nach dem göttlichen Gebot "seinen Feind liebt"! Ich muss zu meiner Beschämung (und nicht etwa frivol gedacht) gestehen, dass ich das auch noch nie zu Stande brachte; doch habe ich bei meinem stark ausgeprägten Sinn für Sympathie oder Antipathie mir zur Aufgabe gemacht, der Letzteren nicht nachzugeben und mich zu besonderer Höflichkeit zu zwingen; doch scheitere ich hiebei manchmal schmählich - z. B. bei der in Kreuth sich so breit machenden Familie v. Sch. Nun ist der Beweis der Bosheit, meines (medizinisch) schlechten Herzens geliefert! Manchmal befürchte ich ernstlich, dass Ihnen meine Briefe, die fast zu Tagebüchern geworden, zu viel werden. Allein in diesem Falle müssen Sie nachsichtig sein und der Zeit gedenken, wo dieselben ganz ausbleiben werden:

Wer weiss, wie balde![3] [mit drei Takten Noten]

Diese Stelle, die mich oft tagelang verfolgt, ist dem Schlusse der reizenden Novelle: "Mozart auf der Reise nach Prag" (von Mörike) entnommen und einem ergreifenden schönen böhmischen Volkslied, das ich wohl vor vierzig Jahren in Musik setzte, nachgebildet; d. h. der Text, nicht die Musik. - Verehrteste Freundin! Sie thun mir fast leid, dass ich Ihnen soviel Musik vorsetze - es geht aber bei mir nicht anders. Denken Sie, wenn ich ein Philosoph wäre, so müssten Sie ebenso viele Philosophie verkosten - da wären Sie ja noch viel schlimmer daran!- Es ist eine eigene Sache um unsere Volkslieder. Das schönste derselben: "Es fiel ein Reif", das meines Wissens keine nennenswerthe Melodie hat, beschäftigte mich so lange, bis ich ihm selbst eine Melodie schuf (vor etwa 40 Jahren)[4]. Als Komponist hatte ich wohl das Recht, mein Lied zu lieben, und mein gutes Schwesterlein, das eine ganz ungeschulte, fast kindliche, aber an genehme Stimme hatte, sang es oft vor sich hin. Das klang mir so rührend, so einfach und wahr - und wenn es ein kunstgeübter Sänger (od. eine Gesangskünstlerin) sang, war aller Reiz, alle Wirkung weg; es klang dann wie profaniert - ohne Blüthenthau. Ich habe noch manche Lieder im Volkston versucht, aber keines ist mir so in's Herz gewachsen. Vielleicht schicke ich es Ihnen gelegentlich. Was den Text dieses Liedes anbetrifft, so finde ich ihn unbeschreiblich schön: diese vier Dreizeilen haben den ganzen Inhalt einer Tragödie; und dabei diese himmlische Naivität des Ausdruckes! Keiner unser grossen Dichter hat etwas dieser Art Ähnliches zu Stande gebracht; oder macht es nur mir diesen Eindruck? Während ich schreibe, ist bei Herzog Karl Theodor (meinem Nachbarn) Polterabend; man hört die Festmusik herüber. Wenn ich bedenke, wie fast alle Feste dieser Art im Palais drüben Unglück im Gefolge hatten (Kaiserin Elisabeth ermordet, Herzogin Aleçon in Paris lebendig verbrannt, K. Ludwig II. ertrunken. Königin Marie von Neapel entthront) so könnte man Fatalist werden. München lebt aber im Festtaumel: Königsgeburtstag, Prinzessinheirat, Oktoberfest, Eröffnung des neuen Nationalmuseums, so geht es Tag für Tag; dazu italienischer Himmel! -

 

3. 10.

Welche Freude mir Ihr heute eingetroffener Brief machte! (Der gute Briefträger weiss gar nicht, warum ich manchmal so freundlich gegen ihn bin.) Sie haben wohl keine Ahnung von dem Reiz der Darstellungen Ihrer Feder; wie Sie den einzig treffenden Ton finden, wo Andere erst suchen - von dem herzgewinnenden Ausdruck der ächten vornehmen Bescheidenheit, die ich aber zu verletzen fürchte, wenn ich in dieser Tonart fortfahre. Also das letzte Blümlein aus dem Herzogwäldchen (in meinem Briefe), von dem das Lied so wahr singt[5]:

[Es folgen vier Takte Noten]

haben Sie bemerkt? - Carl Stielers Winteridyll kenne ich natürlich; war ich doch von jüngeren Jahren an ein Du-Freund von ihm und in der Stieler'schen Familie, die über 20 Jahre vis-a-vis von uns wohnte, wie zu Hause. Mama Stieler rechnete. uns fast zu ihren Kindern, wir nannten sie "Mimmerl" wie ihre Eigenen; oft kam sie Abends zum Thee herüber, um meiner Frau ihre Freuden und Schmerzen (der Letzteren waren mehr)! mitzutheilen. Carl St.'s hochdeutschen Gedichte sind besser, als seine Dialektsachen, für die ich wenig Sinn habe. Alles Salontyrolische ist mir abstossend. - Ein böses Wort, das aber wohl zufällig Ihrer Feder entschlüpfte, haben Sie doch geschrieben: ... "und wenn Sie einmal nicht mehr schreiben mögen" - wie konnten Sie mir dies sagen? Und wenn ich einmal nicht mehr schreibe (was recht spät eintreten möge), so wird das nicht meine Schuld, sondern die von Verhältnissen sein, die gewiss nicht von mir verursacht werden und natürlich sind. Glauben Sie, dass ich es so leicht nehmen werde, wenn die Umstände unsern gegenwärthigen so herzlichen und zwangslosen Verkehr nicht mehr gestatten? Mein Verlust wird der viel grössere sein; trotzdem wollen wir uns der Gegenwarth freuen! - Mit den Tagebüchern haben Sie recht - solche von 10 Jahren kann man alt nennen - mein Scherz war albern. Also bald zwanzig Sommer zählen Sie - da ist wohl 1881 Ihr Geburtsjahr? den Geburtstag aber herauszubringen bin ich nicht im Stande. - Ihren grossen Schrecken wegen des Brunnenabenteuers kann ich mitfühlen. Danken Sie Gott, dass es so abgelaufen! Wir hatten in Kreuth 1885 denselben Fall. Ein lieber Freund aus Wien kam mit Frau u. einem siebenjährigen Kind, uns auf ein paar Wochen zu besuchen. Einmal gingen die Frauen mit dem Kinde u. unserem grossen Hunde Donald in die Wolfschlucht; wir Männer gingen später nach. Bei der Marienruhe setzten wir uns auf die Bank und sahen plötzlich in der Ferne die Frauen und den Hund den Abstieg hinter den 7 Hütten herablaufen; meine Frau trug etwas auf dem Arm, was nur das Kind sein konnte. "Um Gotteswillen, meiner Irene ist ein Unglück passiert"! schrie mein Freund; mir wurde schwarz vor den Augen. Im höchsten Schrecken kamen die Frauen heraufgestürmt und erzählten in Hast, dass in der Wolfsschlucht das Kind mit dem Hunde vorausgelaufen, demselben auf der Brücke ein "Apportl" in's Wasser warf; da der Steg schmal war, sprang der Hund, das Kind mitreissend in's Gewässer und die arme Irene verlor in der Eiseskälte sogleich die Besinnung. Zum Glück war das Wasser tief, sonst hätte sie sich den Kopf zerschmettert. Die Frauen zogen dem Kind die nassen Kleider aus, hüllten es fest in ihre irgend entbehrlichen Kleidungsstücke und rannten den ganzen weiten Weg zurück. Wunderbarerweise blieb die furchtbare Erkältung ohne weitheren Nachtheil, als ein paar Tage Bettruhe. Wie schrecklich für uns, wenn die Kleine gestorben wäre - es hätte uns das ganze Leben verbittert!

Was Sie über die "Modernen" schrieben, hat mich sehr erfreut, aber bedenken Sie, dass es eigentlich die Jugendeindrücke (etwa bis zum 20. Jahre) sind, die den Geist und die Ansichten des Menschen formen u. meine Jugendeindrücke gehen bis in die fünfziger Jahre zurück; deswegen muss Ihnen natürlicherweise manches daran veraltet erscheinen. Sie haben übrigens Ihre Ansichten sehr gut motiviert; ich habe es so gern, wenn Sie (wie die Süddeutschen sagen) Ihren eigenen Kopf aufsetzen - wie auch damals bei dem Tischgespräch über die Blinden. - Es ist so schön, wenn man sich über Alles, was des Menschen erfreut od. betrübt mit einem sympatischen Freunde aussprechen kann; und so sind mir nun die abendlichen Schreibstunden die liebsten des ganzen Tages geworden. Wenn auch das Komponieren dabei etwas zu kurz kommt, so ist das für die Nerven vielleicht umso besser, und für die Kunstwelt wird der Schaden auch nicht gross sein. Die freundlichen Grüsse Ihrer verehrten Eltern, (die ich zu erwidern bitte) sind mir umso werthvoller, als ich daraus schliesse, dass sie unseren kleinen Briefwechsel nicht missbilligen; ich habe mir schon fast Skrupel darüber gemacht, obschon kein Grund dafür vorhanden ist. - Nun ist das Papier zu Ende, und ich hätte noch Einiges zu beantworten - muss mir also noch die Erlaubnis zu einem weiteren Oktoberbrief einholen. Und schliesslich tausend Dank für Ihren lieben letzten Brief, für die in demselben ausgesprochene herzliche Gesinnung, wodurch Sie, theuerste Freundin! mich alten Einsiedler so oft gemahnen, an längst vergangene, jugendliche und glückliche Zeiten! Und wenn Sie sagen, dass in anscheinend so reizlosen Niederungen der Herbstabend unerwartet schöne Landschaftsbilder zeitige, so ist es ebenso im menschlichen Herbste - er hat durch die verklärte Erinnerung und wohl auch durch die Gegenwart ebenfalls seinen unaussprechlichen, wenn auch schwermüthigen Zauber! -

Mit treuen Grüssen

Ihr ergebenster Freund
Jos. Rheinberger

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[1] Olga=Nichte Josef Rheinbergers, Tochter von Peter Rh.

[2] einen Neffen = Egon Rheinberger, Sohn Peter Rh's, (1870-1936), Bildhauer und Architekt

[3] Wer weiss, wie balde = «Ein Tännlein grünet wo» (Eduard Möricke), für vier stimmigen gemischten Chor a cappella, op. 31 Nr. 5

[4] ihm selbst eine Melodie schuf=« Volkslied» «<Es fiel ein Reif in Frühlingsnacht») Nr. 2 aus «Fünf Lieder» für eine Singstimme und Klavier op. 4 (Nr. 2 komponiert am 29. 1. 1859)

[5] von dem das Lied so wahr singt = <<Im kühlen Schatten» op. 152 Nr.25 aus «Liederbuch für Kinder» «<Andere Hälfte» des kleinen Liedes, Textstelle «... Euch hat ein Engel für mich gepflückt»)