Rheinberger philosophiert u.A. über die Kunst.


München 16. 9. 00.

Sehr verehrte Freundin!

So sehr ich mir auch vornehme, in diesen Erinnerungsblättern nicht so oft das musikalische Gebiet zu streifen, so komme ich doch immer wieder unfreiwillig dazu - "grattez le Russe, et vous trouverez le tartar" - bei mir heisst's: qu'on me gratte, on- trouve le musicien." - H. von Bülow[1] sagte mir einst scherzend: "Ich glaube, Sie könnten einen Zeitungsartikel in Musik setzen." So arg ist's nun allerdings nicht, aber die Gefahr in Musik gesetzt zu werden, ist bei mir immerhin gross. - Sie haben mir Ihren kleinen klavierbeflissenen Vetter nur angedeutet; das ist doch gar zu wenig - einige freundliche Zeilen hätten Sie ihm schon widmen dürfen, umsomehr als eine ganze Seite des miniaturförmigen weitgeschriebenen Briefes ganz leer geblieben ist! In Ausnutzung des Raumes dürfen Sie sich schon an meinen Episteln ein Beispiel nehmen. - Leider habe ich es von je versäumt, Tagebuch zu führen; hie und da aber möchte ich mich doch aussprechen und so sind Sie nun ein Opfer dieses Wunsches geworden. Wenn es Ihnen schliesslich zu viel wird, so werde ich es leicht an Ihren Beantwortungen erkennen und mich zu "bessern" trachten. - Ausser für Musik habe ich wohl am meisten Sinn für Malerei, die ich leidenschaftlich liebe, obschon ich nicht einen Strich zeichnen kann, sodann schätze ich Kunstgeschichte, Weltgeschichte, Naturgeschichte und Religionswissenschaft, ernste Literatur überhaupt. Da aber jedes der genannten Fächer den ganzen Menschen erfordern würde, so komme ich hierin über ein gewisses Dilettantenthum nicht hinaus. Auch lässt sich's in meinem Alter nicht leicht vermeiden, mich hie und da auf das philosophische Gebiet zu verirren. Wer aber dort Trost für's Leben findet, muss anders geartet sein, als meine Wenigkeit. Was nützt es mir z. B. zu erfahren, dass es zweierlei sei: Glück zu haben oder glücklich zu sein. Das habe ich ohnedem schon längst gewusst; man kann das Erstere in reichem Masse besitzen, ohne zu dem Zweiten zu gelangen. Und doch war ich zweimal glücklich. Das erstemal als ich, kaum zwanzigjährig zu ehrenvoller Stellung gelangt, meine jüngste sechzehnjährige Schwester zu mir nahm, um eine eigene kleine Hauswirtschaft zu haben. Die war freilich sehr bescheiden: drei Zimmer und eine winzige Küche. Wir waren aber stolz darauf - da war Alles so jung und glücklich, trotz der bescheidenen Mittel! alljährlich besuchten wir die Angehörigen und kehrten dann gerne in unser trautes Nest zurück - ich, als aufstrebender Künstler noch Alles von rosiger Zukunft erwartend. Das dauerte wenig Jahre - sie starb jung! - Das zweite grosse Glück fand ich durch meine liebe Frau, die eine solche Fülle der edelsten Eigenschaften und Talente in sich vereinigte, wie es wohl selten vorkommen mag. Diese glückliche Zeit währte volle 24 Jahre, um mit der Weihnachtszeit 1892[2] einen tieftraurigen, ergreifenden Abschluss zu finden. - Zunächst hatte ich damals im Sinn, Kreuth niemals mehr zu besuchen; allein als in dem folgenden Sommer der Juli wiederkehrte, empfand ich unwiderstehliche Sehnsucht, diese liebe Stätte so vieler glücklicher und trauriger Erinnerungen wieder zu sehen. - (Vergessenheit und Zerstreuung suchte ich ja nicht). Und so blieb ich denn dem theuren Orte, wo mir fast jeder Baum und Stein von der Vergangenheit sprach, treu. Fast glaube ich, dass ein tiefer Seelenschmerz einer poetisch veranlagten Natur weniger gefährlich wird, als einer prosaischen, weil bei ersterer ein unbewusster Trieb, Alles mit Poesie zu umhüllen und zu verklären, die scharfen Kanten mildert. Das ist nicht Sache des Willens, sondern dem Künstler angeboren und jedenfalls ein glücklicher Umstand für die Kunst. -

Wenn man auf dem rechtsseitigen Fussweg gegen die "Marienruhe" geht, findet sich bei Beginn des Wäldchens der jetzt vermodernde Stamm eines Baumes, der, einst scheinbar schön und gesund, mit dem verhängnisvollen rothen Strich des Försters angemerkt, meiner Frau zu folgendem ergreifenden Gedichte Anlass gab:

"Gezeichnet" !
"Es steht ein junger Eichenbaum in Waldesmitte,
Um dessen Stamm zieht sich ein Saum vom rothem Schnitte.
Der Förster hat ihn ausgesucht zu bald'gem Schlagen;
Schon ward sein Schicksal eingebucht: "in vierzehn Tagen."
Nichts ahnt der Baum. Es grünet fort in jungen Zweigen,
Die sich zum leisen Windeswort süssrauschend neigen.
Die Vöglein fliegen ein und aus nach trauter Weise,
Noch schwebt im hohen Blätterhaus das Nest der Meise.
So oft ich schon vorüber kam, will mich empören,
Der böse Strich am jungen Stamm, muss immer hören:
Wer wohl von uns sein Zeichen trägt, indess wir wallen,
Wann ist's, das mir die Stunde schlägt, der Axt zu fallen? -

Die ominösen Schlussworte erwiesen sich leider als Vorahnung! Ebenso habe ich im Langenauerthal mehrere „Schicksalsstellen“, die eine Reihe von Erinnerungen wachrufen, welche alle zu Musik geworden sind. Frl. Marcella T. musste mir einige dieser Lieder, die ich ihr einstudierte, vorsingen; sie besitzt eine wunderschöne seelische Mezzosopranstimme voll Leidenschaft, singt aber mit einigen Vortragsunarten. Sie war nie beleidigt, wenn ich sie darauf aufmerksam machte, und - sang das nächstemal genau wie zuvor. Frl. Emmy R.[3] im Besitze einer prächtigen, gut geschulten Altstimme nahm ebenfalls Theil an den Gesängen, ohne dass die beiden Sängerinnen wussten, wie sehr diese Musik in Wort und Ton erlebt war. -

Meine sehr verehrte Freundin bitte ich mir nicht zu zürnen, wenn ich sage, dass eine Stelle Ihres lieben Briefes mich lächeln machte: Sie sprechen nämlich von Ihren alten Tagebüchern - die werden wohl alt sein - am Ende gar schon etwa drei Jahre! Verzeihen Sie, denn ich bemerke mit Beschämung, dass es sich leichter in ernsthafter Form mit Ihnen plaudert, als in solchen Scherzandi's, in denen Völderndorff Meister war. - Von meinen Berufsarbeiten, die ich wohl ernst (manchmal zu ernst) nehme, will ich Ihnen lieber nichts berichten. Wenn ich so Abends beim Lampenschein an Sie schreibe, mag ich an diese nothwendige Prosa des Lebens gar nicht denken; vielleicht muss sie aber des Gegensatzes wegen sein, da man sich doch nicht den ganzen Tag in Musik und Poesie herumtummeln kann, ohne schliesslich ungeniessbar zu werden. Mein verehrter, verstorbener Freund W. H. Riehl[4], dessen prächtige novellistische Schriften Sie gewiss kennen, warnte mich ernsthaft, als ich vor etwa acht Jahren mich von der öffentlichen Thätigkeit zurückziehen und am Starnbergersee ein beschauliches, einsames Leben führen wollte; er behauptete, nur der rege Verkehr mit immer neuen jungen Leuten erhalte ihn beständig frisch und jung. Und doch wären Ferien, die man nach Belieben dehnen könnte, sehr verlockend - oh, dolcefar niente! -

 

21. 9. 00.

Eben traf Ihr lieber, herrlicher Brief ein, der gar Manches zu denken und zu beantworten gibt, wenn es auch vielleicht in diesen Zeilen nicht mehr Raum findet. Ihre Schrift ist mir nun so vertraut, dass ich sie schon ihrer Charakteristik wegen nicht anders wünschte; und wenn sie auch nicht immer auf den ersten Blick ganz deutlich erscheint, so ist dafür Ihre Ausdrucksweise so klar, bestimmt und zutreffend, wie man das selten bei einer so jungen Dame finden wird. Zudem werden Ihre Briefe von mir öfter gelesen und freue ich mich schon darauf, einmal Etwas zu tadeln zu finden - bis jetzt vergeblich! Wir empfinden in so vielen Dingen überraschend gleich - wenn Sie sagen, dass es Ihnen ein Rätsel sei, wie unsere Korrespondenz geworden, so ist das bei mir genau derselbe Fall, besonders wenn ich bedenke, wie wenig Worte wir noch persönlich gewechselt! Eines ist sicher: dass meine anderen Korrespondenten jetzt bedeutend zu kurz kommen oder auf schmale "Ansichtskartendiät" gesetzt werden. Ein herrliches, echt modernes Auskunftsmittel! -

Wenn Sie ferner schreiben, dass im Grunde Sie von jeder Musik melancholisch gestimmt werden, so wird es Sie wahrscheinlich überraschen, dass dies auch bei mir in sehr verstärktem Masse der Fall ist: Musik hat mich gar oft im Leben unbeschreiblich beglückt, aber niemals froh oder gar heiter gestimmt; wie das kommt, ist mir auch ein Rätsel! Hingegen gibt es Tonstücke, die ich wegen ihrer schwermüthigen Einwirkung auf mich kaum ertragen kann, z. B. das schöne Schubert'sche Lied "Das Meer". Wenn ich hingegen Musik lese, wobei ich mir natürlich den Klang genau so, wie er in Wirklichkeit ist, vorstelle, fällt jene Wirkung weg. Dadurch, dass ich ungewöhnlich frühe der Musik mich widmete, bildete sich bei mir ein ebenfalls ungewöhnliches heftiges und tiefes Empfinden bei allen seelischen Eindrücken aus; hätte ich in den Kinderjahren nach den Schulstunden wie die Anderen mich ausgetollt und auf der Gasse herumgerauft, wie es sich für einen Jungen gehört, so wäre ich wohl in manchen Dingen härter und widerstandsfähiger geworden. Der Ernst des Lebens stellte sich auch früh genug ein, indem ich mich schon mit sechzehn Jahren auf eigene Füsse gestellt sah. Das ist zwar Manchem gesund, hat aber auch seine eigenthümlichen Gefahren, - zum wenigsten macht es frühe ernst. Und so war es natürlich, das meine Bekannten und Freunde alle bedeutend älter waren als ich. So lieb mir das und meiner Natur und Neigung entsprechend war, so hat es den Nachtheil, dass man nach Jahren allein übrig bleibt und keine Lust mehr hat sich anzuschliessen; man ist dann in seinem Gedenken gar sehr nur mehr auf die Erinnerung angewiesen und zieht sich leicht vor allem Neuen scheu zurück. - Warum sollte ich mit der Schlussstrophe des Lenau'schen Gedichtes, das meinem Gefühl nach zu dem Schönsten und Tiefsinnigsten der deutschen Lyrik gehört, nicht einverstanden sein? Man braucht sich nicht in Allem mit den Poeten zu identifizieren - und doch finde ich das Ausklingen dieser Klage ergreifend und fast versöhnend. Keller[5] hat mich nicht so befriedigt, wie ich es seinem grossen Renommee nach erwartete; ich ziehe ihm den anderen Schweizer Conrad Ferd. Meyer[6] (mit seinem Roman Jürg Jenatsch) vor. Über Harnack[7] vielleicht ein andermal. Von neueren Dichtern liebe ich sehr F. W. Weber[8] („Dreizehnlinden“) und meinen Freund Martin Greif[9], ein Poet von Gottes Gnaden, aber mit sehr unpoetischem Äusseren. Auch Lingg[10] und Heyse[11] sind mir genau bekannt. Ersterer ist hoch bedeutend - Letzterer mischt allerdings seinen schönklingenden Produkten gerne einen starken Tropfen Opium bei, und Opium ist Gift - es stünde schlecht mit der Poesie, wenn dieselbe solches benöthigte. -

 

Als ich Sonntags, den 16. Nachmittags, als bei dem wundervollsten Wetter alles fortströmte, am Schreibtisch sass, hätte ich Sie wohl nicht gleichzeitig in dem „verschlafenen“ Pommerstädtchen Freienwalde gesucht; und wenn Sie selbst dort ein poetisches Plätzchen zum Nachempfinden des sterbenden Sommers fanden, so kann ich mir recht gut denken, wer die Poesie dorthin getragen! Der Herbst ist auch hier anhaltend schön; es ist als ob er sich heuer nicht selbst genug thun könnte - man kommt aus der "Schilfliederstimmung"[12] Lenau's gar nicht hinaus. Sie haben sich theilnehmend nach meiner Gesundheit erkundigt; wenn dieselbe Gottlob besser als letztes Jahr ist, so ist wohl auch meine bessere Gemüthsstimmung daran schuld, und an Letzterer - ? Ach, das all das nicht währen kann, sehe ich ein; und wenn der Himmel jetzt noch so tiefblau scheint, so weiss ich im fernen Westen ein Wölkchen, das sich vergrössern und früher oder später im Tag sich unheilvoll erweisen wird; möge das recht spät sein! - Versäumen Sie nicht "Blackhouse"[13] zu lesen; ich bin begierig wie es Ihnen gefällt - mir hat es starken Eindruck gemacht. So Manches in Ihrem letzten Briefe ist noch zu beantworten; da es aber mit drei Worten nicht geschehen kann, so muss es eben einem Oktoberbrief (doch nicht gar einem Novemberbrief!?) vorbehalten bleiben, denn für den September habe ich Ihre Nachsicht stark beansprucht. Und nun noch ein Wunsch: wenn Sie, wie ich hoffe, mir durch baldige Antwort Freude machen wollen, so bitte ich nochmals recht viele "ich" anzubringen.

Wenn ich einen Ihrer Briefe erhalte, ist es mir wie an einem wolkenlosen Kreuther Morgen, wo der Thau in den Millionen Gräsern glitzert, und die Bergwaldluft die Lebensgeister erquickt! -

Mit den besten Wünschen für Ihr und Ihrer verehrten Angehörigen Wohlbefinden verbleibe ich mit herzlichstem Gruss

Ihr treuer alter Freund
Jos. Rheinberger

25. 9. 00.

(Bei schliessIicher Durchsicht dieses Briefes finde ich denselben so schlecht und flüchtig stylisiert, dass ich die gütige Leserin um Verzeihung bitte.)

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[1] H(ans) von Bülow= (1830-1894), Dirigent und Pianist, Freund Rheinbergers.

[2] Weihnachtszeit 1892 =Rheinbergers Gattin Fanny starb am 31. Dezember 1892

[3] Frl. Emmy R. = Emmy Rintelen

[4] W. H Riehl= Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), Begründer der sozialen Volkskunde, Journalist, Professor für Kulturgeschichte, Direktor des bayerischen Nationalmuseums und Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer.

[5] Keller = Gottfried Keller (1819-1890), Schweizer Erzähler und Lyriker

[6] Conrad Ferd. Meyer= (1825-1898), Schweizer Lyriker und Erzähler

[7] Harnack= Otto Harnack (1857-1914), Mitarbeiter der «Preussischen Jahrbücher» und Journalist. Schriften: «Dieklassische Ästhetik der Deutschen» u.a.

[8] F(riedrich) W(ilhelm) Weber= (1813-1894), Lyriker und Epiker, geschichtliche Werke mit katholischer Tendenz.

[9] Martin Greif = eigentlich Friedrich Hermann Frey (1839-1911), Naturlyriker und Dramatiker in der Schiller-Nachfolge.

[10] Lingg=Hermann (von) Lingg (1820-1905), Epiker, Lyriker (vor allem Balladen); als Dramatiker erfolglos. Bildete mit Heyse und Geibel den «Münchner Kreis».

[11] Heyse=Paul Heyse (1830-1914), Erzähler, Dramatiker, Versepiker, Lyriker und Übersetzer.

[12] «Schilfliederstimmung» Lenau 's= Nikolaus Lenau, eigentlich Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau (1802-1850), österreichisch-ungarischer Lyriker und Versepiker. Rheinberger hat einige Gedichte Lenaus, darunter auch aus den «Schilfliedern», vertont.

[13] «Blackhouse»=recte: «Bleak House», Roman von Charles Dickens