Rheinberger gibt Auskunft über Wüllner, der Nachfolger von Hiller in Köln werden soll


München, eingegangen 30.5.1884

 

/eingegangen 30.5.1884/

Hochgeehrter Freund!

(„Er“ dictirt, „sie“ schreibt):

Wenn ein Brief von Ihrer Hand ankommt, ist es uns immer eine grosse Freude, so auch heute, als Ihre lieben Zeilen eintrafen. Ihre vertrauliche Anfrage in Betreff W/üllner/ will ich versuchen, ebenso vertraulich zu beantworten. W/üllner/ hatte hier als Hofcapellmeister die Leitung der kgl. Kirchenmusik, und an der kgl. Musikschule den Unterricht des Chorgesanges, sowie die Leitung der Concerte. In beiden Stellungen zeichnete er sich durch unermüdlichen Fleiss und grosse musikalische Gewissenhaftigkeit aus, und ist seine musikalische Hauptstärke jedenfalls das eben erwähnte Lehrfach. Noch weit grösser aber ist sein Ehrgeiz, der nach dem Theater trachtet – eine Liebe, die aber nicht erwidert wurde. Als seiner Zeit Lachner und Bülow von hiesiger Bühne abgingen und der damals junge Musikdirektor Richter (z. Z. Hofcapellmeister in Wien) sich bei Einstudirung des Rheingold etc. der Intendanz gegenüber unbotmässig benahm, war grosse Verlegenheit am Theater um einen Capellmeister, indem die Königs Vorstellungen unaufschiebbar beginnen sollten. Da sprang W/üllner/ ein, und es war ihm damit gelungen, im Theater Fuss zu fassen. Zwar war dies nur ein Provisorium und die Berufung Levi’s erfolgte. Letzterer machte den Anspruch auf die Direktion der Wagner’schen Opern. W/üllner/ ging nach „Damascus“ und glaubte dadurch seine Theaterstellung zu befestigen. L/evi/ schien aber auf den Bretter, die die Welt bedeuten, besser zu Hause zu sein und gewann Jenem den Vorrang ab. Es war dies zu der Zeit, als Rietz in Dresden starb und W/üllner/ dort einen günstigen Boden für seine Theaterleidenschaft zu finden glaubte. Durch genannten Gang nach Damascus erreichte er jedenfalls so viel, dass er von der Presse, der er früher selten etwas recht machen konnte, plötzlich zu einem der ersten Dirigenten Deutschlands erhoben wurde. Ich für meine Person habe nie begreifen könne, wie man auf der einen Seite für Palestrina und Haydn, auf der andern für Wagner schwärmen konnte, den ach: „nicht zwei Seelen wohnen in meiner Brust“. Nun – Andere bringen so etwas schon fertig. Und nun über seine Begabung als Dirigent. Wenn bei uns in Süddeutschland ein Sänger eine schöne Stimme hat, unermüdlich fleissig und tadellos correkt singt und doch kein Mensch von ihm entzückt ist, so sagt man: „er singt 'lutherisch". Es ist dies ohne jede confessionelle Beziehung gemeint, denn auch die protestantischen Musiker bedienen sich dieses Ausdrucks. Eben so lutherisch war die Direktion W/üllners/, denn bei allen anderen guten Eigenschaften fehlte eben jenes Pünktchen auf dem i, welches schliesslich doch den Buchstaben macht – d. h. jene überzeugende Wärme, die man selbst um den Preis einer etwaigen Uncorrectheit nicht vermissen mag, wenn man nehmlich Musikanten – und nicht Fischblut in sich hat. Seine persönlichen Eigenschaften waren höchst achtungswerth, ohne dass er eigentlich beliebt war.

Nun hört das Dictiren auf und der Sekretärin wird gestattet, auch einen selbständigen Gruss beizufügen. Leider wurde mir heute auch schon der Absagebrief nach Düsseldorf diktirt, welcher zugleich die Hoffnung durchstreicht, Sie in Cöln wiederzusehen! – Die Hand ist gegenwärtig so geschwollen und neue Wunden bilden sich an ihr, dass der arme Märtyrer keine Lust zum Reisen hat. Der Arzt mein zwar, dieses Stadium sei der Vorbote gänzlicher Heilung – aber wird – im besten Falle – nicht ein Finger steif bleiben? Gott sei Dank sind wir Beide in Leiden geübt, so dass wir dadurch nicht unglücklich werden: Mir gewährt es sogar eine besondere Genugthuung, dass ich ihm in schweren Tagen zur Seite stehen darf. Wir grüssen Sie recht herzlich und werden in nächster Zeit noch mehr als sonst bei Ihnen in Gedanken sein.

Ever yours very sincerely

Fanny Rheinberger

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