Hamburg, 21. Januar 1884
Hamburg, 21. Januar 1884.
Hochverehrtester Herr Hofkapellmeister!
Wenn ich erst heute dazu komme, Ihnen für Ihre so gütigen Zeilen, die mich mit hoher Freude und mit Stolz erfüllten, meinen herzlichsten Dank auszudrücken, so möchte ich Sie, hochverehrtester Herr Hofkapellmeister, bitten, den Grund dafür in nichts anderem zu suchen, als in absolutem Mangel an Ruhe, deren ich bedurfte, um mich dem Verfassen eines Briefes an Sie hingeben zu können. Meinen Dank und meine Freude wollen Sie also bitte nicht bemessen nach der Geschwindigkeit, mit welcher ich mich bei Ihnen brieflich einfinde. Persönlich hoffe ich mich und Ihrer Frau Gemahlin kommenden Sommer vorstellen zu können. Ich werde den August bei Frau v. Holstein im Allgäu (in Oberstorf) zubringen und in Folge dessen auch München berühren. Ausserordentlich würde ich mich freuen wenn ich Sie und Ihre Frau Gemahlin anträfe und Ihnen die Sonate [1] vorspielen könnte. Ich habe sie mit grosser Lust studirt, mit immer wachsender Lust! Welchen Satz ich am meisten liebe, weiss ich selbst nicht. Anfangs war’s der erste, jetzt sind mir die andern in ihrer Art aber eben so lieb. Interessant und amüsant war mir’s, am zweiten Tema des ersten Satzes eine Ähnlichkeit zu entdecken mit einem Kindchen meiner Fantasie! In einem Strechquartett (in der Schublade) von mir heisst’s einmal:
[sie Noten Original]
Ich bin sehr stolz.
Was ich am ersten wie an allen Sätzen ausser dem Inhalt bewundere, ist die meisterhafte Leichtigkeit in Beherrschung der Form. Ich musste an die schönen Worte Hauptmanns denken:
„Was gehört aber dazu! Welche Kraft, all die Last der Faktur in die Höhe schnellen zu können, dass sie als Kunstblume lastlos oben schwebe, nein alles durchdringe!“ –
Das glänzende, humorvolle Scherzo will ich nächstens im Concert eines Geigers spielen. Werden Sie mir das Herausnehmen aus dem Zusammenhang verzeihen? Das Ganze würde nicht in’s Programm passen. Das Scherzo und der letzte Satz mit seinem energischen Hauptmotiv und seinem so schön kontrastirenden weichen Liedtema haben der Allgemeinheit am besten gefallen. Im III: Satz ist mir besonders lieb die Cantilene und dann
[sie Noten Original]
Am Abend bei Stammanns war ich recht gut disponirt, hätte Ihnen jedoch noch keinesfalls genügt. Ausser mit Finger und Gemütsschwierigkeiten habe ich leider auch mit einem hartnäckigen nervösen Armleiden zu kämpfen, das zeitweise recht bedrückend wirkt.
Ihre gütigen Zeilen waren mir der schönste Lohn für eine Mühe, die reiche Freude schon in sich barg, und danke ich Ihnen nochmals von ganzem Herzen.
In der freudigen Hoffnung, Sie und Ihre Frau Gemahlin persönlich kennen zu lernen, verbleibe ich mit dem Ausdruck ausgezeichnetster Hochachtung
Ihr sehr ergebener
M. Fiedler.
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[1] 3. Klaviersonate in Es-dur, op. 135. Das Scherzo (2. Satz) erschien in einer separaten Ausgabe.