Josef Rheinberger lobt das Odeonskonzert "Idyll" und bemängelt, dass es keine guten Musikkritiker gäbe


München, 13. Dezember 1883

 

Hochverehrtester Freund!

Gestern endlich hatten wir die Freude, Ihr reizendes „Idyll“ im Odeonsconcerte zu hören und hat dasselbe allen Musikern und Laien (soweit sie nicht durch Eidschwur an die grüne Fahne des Profeten Wagner gebunden sind) ausnehmen gefallen; besonders anregend machte sich der Übergang zum letzten Satz, dessen graziösem Thema nicht leicht Jemand wiederstehen wird. Ich hoffe, dass wir das Werk bald wider hören werden. Auch Fr. Lachner, der sonst keine Concerte mehr besucht, war zu Ihrem Werke anwesend. (Die plötzliche Unterbrechung des Walzers machte sich besonders – fast dramatisch – wirksam und steigerte aufs Glücklichste das Interesse von neuem. Bei der brillanten und pikanten Instrumentation und feiner Ausführung muss das Stück überall zünden). Seit ich in Cöln war, lese ich regelmässig die Concertberichte der Kölnischen Zeitung und der Kölnischen Volkszeitung mit doppeltem Interesse. Was Sie mir übrigens über die Verhältnisse der musikalischen Kritik in Cöln mittheilen, gilt auch in erhöhtem Masse hier; wir haben in ganz München nicht einen Musikkritiker, der seiner Aufgabe gerecht zu werden verstünde, und das ist jetzt doppelt zu beklagen, seitdem in allen grösseren Blättern sich die Wagnerianer breit machen. Für die freundliche Übersendung Ihres Bildes und des Bildes Ihres Musikzimmers meinen besonderen Dank. Wie gerne würde ich in jenem künstlerischen Raume hie und da auf ein Plauderstündchen Besuch machen!

Meine Bearbeitung der Bach’schen (Goldberg) Variationen [1] zu 2 Clavieren ist jetzt erschienen. Die Steigerung, welche Bach durch die 30 Variationen einzuhalten versteht, ist ganz einzig. Das Werk dauert eine Stunde und acht Minuten – das waren doch Componisten von Überlebensgrösse!

Hoffentlich befinden Sie sich wieder vollständig wohl und geben mir ganz gelegentlich wieder ein briefliches Lebenszeichen, das uns, meine Frau und mich, immer ganz besonders erfreut.

Mit den herzlichsten Grüssen, hochverehrter Freund!,

Ihr hochachtungsvoll ergebener Josef Rheinberger.

______________

[1] 1883 hatte Rheinberger die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach für zwei Klaviere eingerichtet, um "Musiker und Musikfreunde mit diesem Schatze echter Hausmusik bekannt und vertraut zu machen" (Rheinberger), nachdem im 19. Jahrhundert keine Cembali mehr gebaut wurden. Rheinbergers Bearbeitung erschien noch im selben Jahr bei Kistner & Siegel in Leipzig und wurde 1915 in einer Max Reger revidierten Ausgabe neu aufgelegt.