Franziska bedankt sich für die Zusendung von der Broschüre über Goethe und erzählt von ihrer künstlerischen Arbeit


München, 10. Dezember 1882

 

München den 10.12.82

Sehr geehrter Freund!

Wieder einmal haben Sie uns Antheil nehmen lassen an Ihrem geistigen Schaffen und mein Mann ist mir zuvorgekommen Ihnen für diese letzte so interessante Sendung Dank zu sagen.

Ich aber habe noch einen anderen Dank aufzuholen: dass Sie Sich so ausführlich mit meinen Dichtungen befasst und so aufrichtig darüber an mich geschrieben haben. Es lässt sich schriftlich schwer ausdrücken wie sich eine seelische Wandlung vollzieht – die unbarmherzigen Franzosen haben über so etwas einen scharfen Spott – Sie kennen das Sprichwort… il te fait hermite… Was voran geht will nicht sagen und nicht schreiben. Wahr ist es aber dass in der Jugend ein böser Geist oft sehr falsche Ideale vorspiegelt, über deren richtige Beurtheilung bisweilen die schönsten Jahre verloren gehen.

Sechs Jahre ernste Krankheit bis zum unabweislichen Gange zum Schaffott, (denn was ist es Anderes, wenn 12 Ärzte vor einer lebensgefährlichen Operation warnen – der 13. aber sagt: „der Tod ist wahrscheinlich, dennoch können Sie möglicherweise gerettet werden, wenn Sie Muth und Vertrauen haben.“) Die wunderbare Befreiung aus Qual und Angst, die Überzeugung, dass nichts bis zum Grab und über das Grab hinaus standhalten kann als einzig nur die Religion – diess – und noch manches Andere hat meiner Seele die Richtung gegeben, die Sie an mir befremdet. Glauben Sie aber ja nicht, verehrter Herr Doctor, dass ich desshalb ein geringeres Interesse an dem nehme was mich sonst begeistert hat. Ich finde im Gegentheile erst jetzt den wahren, reinen und verklärten Genuss an der Kunst, weil ich nicht mehr subjektiv, sondern von der Qual des Ich befreit sie annehmen kann… und dabei bin ich heiterer als früher und habe für alles Komische den gleichen Sinn wie ehedem.

Nun seien Sie mir nicht böse, dass ich so viel über mich schrieb; ich thue es sonst nicht gerne – aber Ihrer Theilnahme glaube ich diesen kleinen Einblick schon gestatten zu dürfen! So eben habe ich Franz Lachner besucht. Denken Sie - - - er erwartet täglich die Todesnachricht seines einzigen Sohnes! Ist das nicht schrecklich? Der Schwiegersohn im Irrenhaus – der eigene Sohn an Brustleiden sterbend!

Ich habe ihm von Ihrer Broschüre über Göthe erzählt und er hofft, dass Sie ihm dieselbe auch noch schicken. Recht warm und herzlich sprach er von Ihnen und freute sich, als ich ihm versprach, Ihnen heute noch seine Grüsse zu schreiben. Er selbst ist auch recht leidend, hustet viel, findet aber Kraft im stündlichen Verkehr mit seinen sechs liebenswürdigen Enkeln. Sie wissen ja, dass er bei seiner Tochter wohnt.

Vergangenen Freitag wurde im Gewandhaus Christophorus aufgeführt. Mein Mann war sehr eingeladen, ihn selbst zu dirigiren, aber er ist gegenwärtig so nervös, schlaflos und auch an der Brust angegriffen, dass er es nicht wagte, sich dieser Anstrengung auszusetzen, zumal er ihn auch wahrscheinlich hier am Weihnachtstag im Odeon dirigiren wird.

Die Telegramme über Aufnahme und Wiedergabe in Leipzig lauteten sehr günstig. Wir freuten uns beide so sehr über Ihre Ergriffenheit bei Direction des Mozart Requiem’s. O wie kann ich verstehen, dass Sie bei manchen Stellen innerlich so bewegt und hingerissen waren! Solche Zeugnisse des „Beseligtseins“ gefallen in der Regel dem Körper nicht. Ihm wird schwach, wenn die Seele selig ist – er ahnt, dass er sich nicht so hoch schwingen kann, wie die Gefährtin, mit der er vereint lebt, und dass eine Trennung von ihr bevorsteht. Das thut ihm weh, wie oft, wie tief habe auch ich das empfunden, aber mit eben so grossem Glücke darin die Wahrheit erkannt, dass die Seele – wenn frei von irdischer Schwere erst voll und ganz zu ihrem Leben gelangen wird. So karg ist Gott nicht mit seinen Gaben, dass er die Unsterblichkeit davon abhängen liesse, dass oder ob sich im späteren Jahrhundert ein Musikdirigent findet, der aus der Staatsbibliothek zu München oder Paris ein vergilbtes Buch herauszieht um ad libitum die Gedanken des Verstorbenen einer neuen Generation vorzuführen, die dann das Werk vielleicht als veraltet ablehnt. – Und Sehen Sie – selbst darin ist meine geliebte Kirche noch treuer als die Welt. Was für sie, in ihrem Geist geschrieben, lebt so lange als möglich lebendig und frisch in ihr fort, (Palestrina, Lasso) während die schnöden Musentempel meistens ihre Götter frühzeitig eingraben.

Und so müssen wir eben arbeiten und ringen, bis unsre Seele selbst eine würdige, unsterbliche Sinfonie geworden ist – möglichst polyphon (vieljährig) – mit einem möglichst würdigen Schluss-Accord. Ist’s nicht so?

O der Plaudertasche! –

Mein Mann kommt in mein Zimmer, staunt, dass ich schon die achte Seite beschrieben und meint ich stellte Ihre Geduld auf die Probe; aber es that mir ganz wohl mich Ihnen so offen und herzlich aussprechen zu dürfen und bin überzeugt, dass ich Ihnen desshalb nicht zuwider geworden bin.

Es grüsst Sie in aufrichtiger Freundschaft und Dankbarkeit Ihre herzlich ergebene

Franziska Rheinberger

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