Erlangen, ohne Datum
Hochverehrter Freund!
Ich habe im vorigen Jahre ein Heft: "Geistliches und Weltliches" gesandt, das Dir noch in Erinnerung sein wird. Dasselbe hat den Zweck: den Leitern kleinerer Vereine, namentlich in Provinzialstädten, passenden Stoff an die Hand zu geben. Auch den Cantoren an protest. Kirchen soll das Werkchen passende Auswahl von brauchbaren Sätzen bieten. Der evangel. Cultus lässt nur einzelne Gesänge, niemals Zusammenhängendes zu, wie Du Dich aus meiner Münchner Zeit, in welcher Du manchmal auf der prot. Kirchenorgel den jugendlichen Begleiter machtest, erinnern wirst. Es soll nächstens ein zweites Heft gedruckt werden. Hast Du nicht einen passenden Beitrag, nicht schwer, womöglich mit deutschem Text, mit oder ohne Orgelbegleitung, hiezu im Pulte liegen? Oder etwas Passendes von einem älteren Componisten, das noch wenig bekannt ist? Du hast freilich viel zu thun, doch ist vielleicht Deine liebe Frau, der ich mich bestens empfehle, so freundlich, gefällige Mithülfe zu leisten. *)
Es kann auch ein Kyrie oder Sanctus sein, ähnlich wie in Deiner Prof. Schafhäutl dedicirten Messe [1]. Aber auch ein einfaches Lied, ein- oder vierstimmig für gemischten Chor, ist erwünscht. Das ist mein erstes Anliegen. Mein zweites betrifft einen jungen Mann: Herrn Kellermann aus Nürnberg. Derselbe hat mich ersucht, ein passendes Wort bei Dir für ihn und zu seinem Besten einzulegen. Dieser war einige Jahre in Berlin im Kullak' schen Conservatorium als Klavierlehrer verwendet. In Nürnberg findet er nicht den rechten Boden für eine gedeihliche Wirksamkeit und hat das auch für den, welcher die Nürnberger Verhältnisse kennt, seine guten Gründe. Er hat gehört, dass an der Musikschule in München Veränderungen vorgehen in Bezug auf Klavierunterricht und will sich deshalb persönlich vorstellen und sich bewerben um eine passende Verwendung. Ich habe ihn einmal spielen hören und habe den Eindruck gehabt, dass er etwas Tüchtiges gelernt hat; er gilt für einen tüchtigen Lehrer, ist strebsam, persönlich angenehmen Wesens und jedenfalls so angelegt, um mit der Zeit sich noch mehr einzuarbeiten und Erspriessliches zu leisten. Es wird allerdings nicht so leicht sein, nach Bärmann zu reüssiren, aber wäre in diesem Falle nicht eine Hilfslehrerstelle im Klavierspiel für ihn vorhanden? Ich glaube, er wäre auch damit zufrieden; nebenbei könnte er sich ja als Privatlehrer zunächst in der protest. Gemeinde, wo es ihm nicht an Empfehlungen fehlen dürfte, eine vorderhand passende Wirksamkeit verschaffen. Die Verhältnisse Münchens haben sich seit meines Weggangs vielfach verändert - stehe ihm rathend und helfend zur Seite, auch wenn er das nicht erreichen sollte, was er zunächst im Sinn hat. Da er protest. ist, und unter den Protestanten der Privat-Musikunterricht noch nicht übersetzt ist, dürfte sich in München eine geeignete Existenz zu gründen für ihn nicht allzu schwer sein.
In Frankenstädten, Nürnberg nicht ausgenommen, sind die Verhältnisse ganz dazu angethan: gründlich zu versauern. Ich weiss das aus eigener, langjähriger Erfahrung und habe keinen sehnlicheren Wunsch als noch einige Jahre vor dem Lebensende in Ruhe in musik. Luft zu athmen.
Von Deinem persönlichen Befinden höre ich stets Gutes, was mich freut. Deine Wirksamkeit, sowohl als Componist wie als Lehrer, schätze ich sehr hoch. Ich denke oft daran, wie Du als 14-jähriger Junge auf der Orgel gesessen - und kleine Fughetten fantasirtest. War eine schöne Zeit! Nun sitze ich schon volle 27 Jahre hier, plage mich mit elenden Dilettantengeschichten ab, entbehre der Anregung - und werde eine "alte, ausgepresste Citrone", die keinen Saft und Geschmack mehr hat. Hierin liegt der Grund, warum ich jedem Musiker helfen möchte, in bessere Luft zu kommen.
Dein alter Freund Herzog.
*) Randbemerkung von der Hand Fannys: Sie hat es gethan und die 4stim. Motette [2] zum 21. Psalm ausgesucht.
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[1] Rheinberger hat sienem Freund und Mentor zwei Messen gewidmet: die Messe in d-moll für 4 Singstimmen und Orchester (JWV 2), komponiert 1853, und die Missa brevis in d-moll für vierstimmigen Chor a cap., op. 83, komponiert 1860/61, umgearbeitet 1869. Letztere meint Herzog in seinem Brief.
[2] Motette "Herr, in deiner Kraft ertreuet sich der König" (JWV 142), komponiert 1864, gleichzeitig mit den Motetten op. 40.