Josef Rheinberger schickt ein Brief an Otto Hieber in dem er die Klavierschule G. Eichelers kritisiert


München, 18. April 1879

 

/…/ Die zweistimmigen Sätze sind recht gut und dem Schüler gewiss von Nutzen; nur dürfte die Kontrapunktik der Stimmen hie und da sorgfältiger ausgearbeitet sein; man wird bei zweistimmigen Sachen denn doch immer die Konkurrenz der zweistimmigen Inventionen von Bach zu bestehen haben, und das ist immerhin "ein Umstand". Auch die Triolenschule enthält Manches, das beherzigt werden mag; aber - wo nähme man die Zeit her (zu lehren und zu lernen), wenn jeder musikalische Zweig, und die Triolenbildung ist nur ein ganz untergeordneter, in dieser Ausführlichkeit behandelt würde! Unsere ganze Clavierpädagogik wird viel zu breit behandelt; es gibt Schulen des Stakkato's, des Legato's, der Rhythmik, des Anschlags, des singenden Anschlags, der Geläufigkeit, der Virtuositt, der Polyphonien, der Akkordarpeggien, der Skalen, der chromatischen Skalen, der harmonisirten Skalen etc. etc. wenn man jeden dieser Zweige als Hauptsache hinstellen wollte, wird die zur reinen Nebensache. Man kann alle diese "Schulen" absolvirt haben, und doch einen Haydn'schen Menuett schlecht spielen. Der arge Missstand bei unserem Clavierunterricht ist ja nicht etwa der Mangel an gutem Unterrichtsmaterial, an dem wir ja Überfluss haben, sondern die sehr kleine Zahl gut musikalisch gebildeter und gewissenhafter Klavierlehrer. Über das, "was" wir beim Klavierunterricht anzuwenden haben, sind wir ja im Reinen (man wird hierin keine neuen Entdeckungen machen, aber auf das "wie" kommt es an!

Theilen Sie dies gefälligst G. Eicheler mit.

Am 18. April 1879.

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