Josef Rheinberger schreibt einen Brief an David Rheinberger über seinen Gesundheitszustand, politische Geschehen, Franziskas Aufenthalt in Wildbad


München, 25. Mai 1878

 

Mein lieber David!

Wenn ich Dir so lange nicht geschrieben habe, so ist nicht etwa Mangel an Zeit Schuld, sondern das einfache technische Hinderniss durch meine kranke Hand. Dieselbe wurde nemlich anfang Mai so entzündet und geschwollen, dass ich einmal Nachts 3 Uhr den Arzt holen lassen musste. Unter dessen Behandlung brach die Geschwulst auf und ein Knochensplitter eiterte heraus, wodurch Besserung auftrat und gegenwärtig Hoffnung ist, dass sich die Wunde gänzlich schliesst - da die Hand seit 1870 krank ist, wäre es nicht zu frühe! So hat eben jeder sein Päckchen Elend zu tragen. Gegenwärtig kann ich, wie du siehst, wenigstens schreiben, aber nur mit Anstrengung, da die Hand sehr leicht ermüdet. Mein Arzt, Dr. Ludwig Mayer, ist ein eminenter Chirurg, und da er gleich nebenan wohnt, so bin ich in dieser Hinsicht gut versorgt. Meine Frau ist seit 8 Tagen in Wildbad. /.../
Peter war so liebenswürdig, uns mit einem Fässchen Vaduzer zu überraschen - dasselbe soll bei Rückkehr Fanny's (etwa in 18 Tagen) angezapft werden. Meine Hofkirche hat wegen Abwesenheit des Königs vom 10. Mai bis Oktober Ferien, nur die Frohnleichnamsoctave ausgenommen, was sich wenigstens meiner Hand wegen heuer gut trifft. Die Charwoche hingegen war sehr streng. /.../ Die politischen Tagesfragen konzentriren sich jetzt nur auf die Socialdemocraten, die man Gottlob in Liechtenstein nur dem Namen nach kennt. In der Nähe wird die Sache mit Allem was drum und dran hängt immer ungemütlicher; wenn man die Literatur dieser Sekten verfolgt, und die Früchte derselben täglich vor Augen hat, so möchten einem die Haare zu Berg stehen. Es ist so weit gekommen, dass Leute, die vor einem Jahr zu den vorgeschrittensten Liberalen zählten, heute sich die starrste Reaction herbeiwünschen, ja, als Glück herbeisehnen! In Sachsen und Preussen ist's noch viel schlimmer. Die Aufhebung der Zünfte, Freigebung der Gewerbe, welche man vor ein paar Jahren als „erlösende Grossthat" pries, haben sich als wahrer Fluch erwiesen. Bankrott auf Bankrott erfolgt. Die guten alten Handwerksmeister sind in Verzweiflung über das arrogante, nichtskönnende, emanzipirte Gesindel ihrer Gesellen und Lehrlinge; die Gewerke gehen in ihrer Leistung unglaublich zurück; es ist ein wahrer Jammer, das Alles mit anzusehen und anzuhören! Der Schwindel, durch die Aufhebung der Wuchergesetze unglaublich befördert, nimmt auf’s Schamloseste überhand; in ein paar Wochen entstehen ganze neue Strassen - und doch stehen viel hundert Wohnungen leer. Es ist ein unglaubliches Getriebe! - Gelt! Da ist's in Vaduz schön still.
Wie geht es Euch Allen? Hoffentlich ist Alles gesund und frohgemuth.
Grüsse Peter mit Familie auf's herzlichste und schreibe bald Deinem Dich liebenden Bruder

Josef Rheinberger

München den 25.5.78 Abends

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