Brief von J.G. Herzog an Jos. Rheinberger:
Kissingen, den 2. Sept.73
Sehr geehrter Freund!
Seit drei Wochen bin ich hier zum Gebrauch der Kur. So eine Kur hat was recht Langweiliges, denn ein Tag ist wie der andre. Da wurde mir nun heute zur Abwechslung eine rechte Freude beschert. Meine Frau schickte mir Deine Fantasie-Sonate für Orgel, /op.65/ welche Du von Kreuth aus nach Erlangen sandtest. Ich habe diese neue Composition durchgelesen und an diesem prächtigen Werk eine sehr grosse Freude gehabt. Nimm dafür meinen allerbesten Dank. Ich gestehe offen, dass ich über den Reichthum Deiner Produktivität wahrhaft erstaunt bin. Wie viel Schönes und Herrliches hast Du bei Deinen noch jungen Jahren schon zu Tage gefördert! Gott gebe Dir dauernde Gesundheit und einen allzeit fröhlichen Sinn, damit die Kunst noch recht lange in so erspriesslicher Weise wie bisher von Dir gepflegt werden kann!
Während der Anwesenheit von Frl. Schmidtlein in Erlangen ist in Produktionen auch von Dir Manches zu Gehör gebracht worden, das den Erlangern sehr gefallen hat. Marie Schmidtlein hat sich dabei aber auch alle Mühe gegeben und Deine Compositionen mit grosser Liebe gesungen. Besonders hat in der Kirche das Ave Maria [1] mit Orgelbegleitung sehr angesprochen. Im nächsten Winter will ich, so Gott will, einige von den Motetten singen lassen.
Ich hatte halb und halb vor, nach meiner Kur noch 14 Tage nach Kreuth zu gehen, aber die immer weiter sich verbreitende Cholera macht mich etwas bedenklich. Wenigstens will ich vorderhand noch abwarten.
Empfehle mich Deiner lieben, verehrten Frau aufs Allerbeste.
Mit den bekannten alten treuen Gesinnungen
Dein Freund J.G.Herzog.
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[1] Nr. 4 aus "Vier Hymen für Mezzosopran und Orgel (oder Klavier) op. 54.