Brief von Franz von Holstein an Jos. Rheinberger
Leipzig, den 29.1.72
Verehrter Freund!
Das wäre einmal wieder überstanden!
Das klingt, werden Sie sagen, recht müde und wenig froh. Und dennoch habe ich allen Grund, froh über den Erfoig zu sein, über dessen Details Hedwig an Ihre liebe Frau berichten wird. Das Publikum war sehr warm und animirt, die Aufführung musikalisch abgerundet, und Alle mit grosser Hingebung bei der Sache. Namentlich der zweite Akt mit einer grossen Freiheit in Spiel und Gesang wiedergegeben, was umso anerkennenswerther ist, da die Aufgabe von der durch die moderne Oper den Sängern gegebene so sehr abweicht. -
Die Kritik hat sich im Ganzen wohlwollend geäussert, nur im Einzeinen Allerlei gemunkelt und am Rande herumgezupft, da der Mitte nicht mit Sicherheit beizukommen war.
Gestern war die zweite Aufführung - leider zu gleicher Zeit Bülows Konzert, trotzdem das Haus voll und beifallslustig, obwohl kaum eine bekannte Seele von mir darin, denn Bülow hatte seit 10 oder 12 Jahren hier nicht gespielt.
Mir that es sehr leid, ihn nicht gehört zu haben, obgleich er n u r Mendelssohn spielte. Ich sah ihn heute flüchtig im Coupé vor der Abreise. Er schien warmer und milder geworden - und recht viel älter. Ihre Grüsse habe ich ausgerichtet, er hörte mit Theilnahme, dass wir uns nahständen, und dass ich Buonamici gesehen, für den er grosses Interesse hat.
Ihr 'Thal des Espingo', welches der ARION (jüngere Studenten) aufführte, konnte ich leider nicht hören, doch soll die Aufführung sehr gut gewesen sein. Das Stück hat sehr gefallen und wurde von der Lokalkritik mit dem gehörigen Respekt behandelt.
Ihr Raben-Vorspiel hat in Dresden sehr gefallen und C. Bart un Dresdener Journal war des Lobes voll darüber. Das Thal des Espingo wird auch der Pauliner-Verein in seinem Conzert (mit dem Gewandhausorchester) aufführen, da freue ich mich, das mir schon sehr lieb gewordene Stück zu hören, und jedenfalls noch besser.
Auch Wüllner's 'Heinrich der Finkler' wird dann gemacht. Das nächste Euterpe-Conzert bringt Zenger's 'Kain'. Rechnen Sie dazu 2 Aufführungen des Fanny-Lachnerschen Requiems [1], das am Palmsonntag auch in Dresden gemacht wird, so werden Sie mir zugeben, dass die Münchner Komponisten sich über Leipzig nicht zu beklagen haben. Jetzt war Dietrich hier, ein alter Freund, und gerade zur ersten Aufführung meines Erben. Er dirigirte im Gewandhaus eine breitangelegte ernste Ouverture in c-moll 'Normannenfahrt' genannt, die aber erst später so getauft wurde, und nicht einmal vom Componisten selbst. Es war mir sehr ergötzlich zu lesen, wie die Herren Kritiker sich bemühten, das auf dem Zettel nicht beigedruckte Programm des Inhalts herauszuklauben und zu errathen. Während das Stuck nur aus sich selbst heraus nach allgemein musikalischen Grundsätzen construirt worden ist, ohne jede Absicht, bestimmte Vorgänge zu schildern. Nun, Dummheit ist ja bekanntlich auch eine Gottesgabe - nur Übertreibung ist schädlich.
Die Ouverture, etwas ernst und schwer und ohne sehr prägnante Motive hatte nur einen Anstandserfolg, hätte aber mehr verdient. Ebenso die Hymne aus dem Trauerspiel Electra: 'Phöbus, Apollon strahlender Gott'. -
Und nun leben Sie wohl! -
Aber nein - noch nicht. Erst muss ich Ihnen sagen, dass die /Theaterdirektion/ sehr bedauert, dass die Partitur der 7 Raben spurlos verschwunden sei! Ist das wahr? Er behauptet, er sei ausser Schuld, was ich glaube, da sein régime in Bezug auf bureaukratische Ordnung nichts zu wünschen übrig lässt. Aber Sie dürfen doch die Partitur- Abschrift nicht einbüssen. Sie m u s s sich finden. Meine Haideschacht-Partitur ward kürzlich auch nach Schwerin verlangt, und war bereits seit 2 Jahren dort - aber ganz vergessen! So gehts!
Ihrer verehrten Frau tausend Grüsse. Das unter meiner Chiffre erschienene Gedicht erfreute uns sehr und wird nächstens im Kränzchen gelesen.
Nun leben Sie wirklich wohl! Ihr getreuer
Franz von Holstein.
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[1] Fanny Rheinberger hatte Franz Lachner bei einer Übersetzung des lateinischen Requiem-Textes geholfen, was Franz von Holstein bekannt war.