Der Zeitungsbericht befasst sich mit den Fugen von Rheinberg und vergleicht sie mit den Fugen von Mendelssohn und Bach


Neue Berliner Musikzeitung", XXIV. Jahrgang Nr. 47, 23. November 1870, S. 370


Mit ausserordentlichem Interesse und wirklicher Freude habe ich die 6 fugirten Tonstücke von Josef Rheinberger Op. 39 durchgesehen; mit Interesse, weil man Seite für Seite gefesselt wird durch die, eine Meisterhand verrathende, contrapunktische Technik, - mit Freude, weil ich glaube, den Clavierspielern, die ihren Concertprogrammen auch Fugen anreihen, einen Dienst erweisen zu können, indem ich sie auf diese Rheinberger'schen Stücke aufmerksam mache. Der Componist tritt in denselben keineswegs in die gefährliche Concurrenz mit dem Fugenriesen Johann Sebastian Bach, dessen Riesenfugen ja überhaupt keinen Vergleich zulassen, es ist vielmehr Mendelssohn, wie mir scheinen will, zu dessen op. 35 [1] dieses Rheinberger'sche op. 39 [2] ein wirksames Pendant bildet. Rob. Schumann vergleicht in seiner Beurtheilung die Mendelssohn'schen Fugen gegenüber den Bach'schen,  mit Blumen, auf demselben Felde entsprossen, das der alte Meister mit riesenarmigen Eichenwäldern bepflanzt hatte; ich möchte diesen Vergleich auch auf die Rheinberger'schen Stücke übertragen, und nur noch hinzufügen, dass diese 6 Blumen einen prächtigen, duftenden Strauss bilden, an dem Jeder, der überhaupt von der Sache etwas versteht, sich gleich mir ergötzen möge. Eine Modernisirung der strengen Form, die der gesang- und empfindungsvollen Melodie in der Weise Rechnung trägt, dass die Hörer, nicht ausschliesslich die Leser zur vollen Befriedigung gelangen, kann durch Arbeiten, wie die in Reden stehenden nur gefördert werden, und ich halte es für einen thatsächlichen, der Kunst zu Gute kommenden Fortschritt, diejenige Form, die im grossen Ganzen bisher die ausschliessliche Domaine des Verstandes und der Kunstfertigkeit war, auch dem Herzen näher zu bringen.

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[1] Felix Mendelssohn-Bartholdy "Sechs Präludien und Fugen für Pianoforte" op. 35.
[2] Josef Rheinberger "Sechs Tonstücke in fugierter Form für Pianoforte" (Erste Folge).