Brief von Hedwig Holstein an Franziska Rheinberger
Leipzig, d. 19ten Nov. 70.
Liebe Freundin,
auch wenn Ihr Brief heute nicht gekommen wäre, müsste ich in meiner Herzensfreude Ihnen schreiben. Bayern hat eingewilligt! Preussen hat nachgegeben, wir werden ein einiges, grosses Vaterland haben! Ach, diese Nachricht, als ich aus der Missa solemnis kam - es war überwältigend schön & gross! - Mein armer Franz musste wieder einmal zu Haus bleiben, er hatte sich - auf e i n e n Sitz - 9 Zähne ausziehen lassen!! Sie schaudern, wenn Sie das lesen, nicht wahr? Gott sei Dank ist es aber besser gegangen, als es klingt. Er hat sich zeitlebens mit Zahnweh herumgeschlagen, & dieser Sommer wurde ihm wieder gründlich dadurch verdorben. Da kam ein berühmter amerikanischer Zahnarzt hierher, den consultirte mein Mann, & der hat ihm gleich auf der Stelle, ohne dass ich eine Ahnung davon hatte, 9 herausgezogen ohne zu chloroformiren. Er hat es so geschickt gemacht, dass Franz geglaubt hat, es ist immer noch der erste, als er schon den 3ten heraus gehabt hat. Natürlich ist aber der arme Liebe vom Blutverlust sehr geschwächt & nächste Woche kommt erst die Marterei mit den künstlichen Zähnen. Es will aber überstanden sein & ich hoffe dann auf einen ewigen Frieden mit diesen Störenfrieden, die uns manchen schönen Tag gekostet haben! Natürlich dachten wir in diesen Stunden auch Ihres lieben Gatten, der so schwer & so bedenklich dabei zu leiden hatte. Ihr Nussbaum soll ja Wunder im Kriege, d.h. unter den Verwundeten gethan haben, & Unzählige danken ihm das Leben.
Ach, dieser schreckliche Krieg! Gestern habe ich mir so viele Einzelheiten davon erzählen lassen, dass ich noch ganz voll davon bin. Die Verwundeten hatten Freibillets für das Riedel'sche Concert zu der Missa solemnis bekommen & wir sassen mitten unter ihnen, neben mir ein Preusse mit 6 Orden. Ich redete ihn an & lernte einen prächtigen Menschen kennen. Ich konnte nun endlich einmal Einem dieser Tapferen mit Hand & Mund danken & wurde verstanden. Er erzählte mir so wunderbare Einzelheiten & mit der ganzen Naivität der Volksweise, dass mir die Thränen immer über die Backen rollten, u.a. von seinem Regimentsarzt, dem gleich zu Anfang bei der Schlacht von Gravelotte ein Auge ausgeschossen worden, & der den ganzen Tag lang die Verwundeten mitverband, als sei ihm nichts geschehen! Und von einem Professor aus Bonn 'mit grauen Haaren', der den ganzen Tag seinem Regiment mitten in die Schlacht hinein Wasser zum Trinken gebracht hat & ein unsägliches Labsal dadurch gereicht. Die Soldaten haben immer in liegender Stellung geschossen und haben erst am Abend, als die Schlacht vorüber war, aufstehen dürfen, weil das Stehen viel grössere Gefahr herbeigeführt, - der alte Professor aber sei wie ein Held hin & her gegangen durch den dicksten Kugelregen & keine habe ihn berührt! Am Abend, als commandirt worden sei, aufzustehen, sei die Hälfte von diesen Centrum-Truppen, die k e i n e Bewegung zu machen gehabt, auf das Commandement n i c h t aufgestanden, sondern am andern Morgen von den Kameraden begraben worden, unter einem schweren Gewitter, & an diese Stunde konnte der bärtige Krieger nicht ohne Thränen zurückdenken.
Darauf nun das Kyrie - das Credo mit dem incarnatus est, das Begrabensein & das Auferstehen - es war mir, als wenn ich als Geist das Alles von oben herab sähe oder miterlebte! Dann, die ganze Seele voll Ton, nach Hause geeilt & unterwegs erhielt ich das Telegramm mit dem Sieg bei Dreux, was aber viel mehr, mit der Nachricht von der deutschen Einheit. Ich stürmte mit dem Zettel meines Franzen Zimmer, & wir weinten Beide vor Freude. Es wird doch nicht verfrüht sein, es wird uns doch nicht wieder genommen werden? Stellen Sie sich nur vor, wie schrecklich es wäre, wenn die verbündeten Truppen wieder auseinandergerissen werden sollten, & in wenigen Jahren g e g e n einander kämpf ten, was g e w i s s kommen würde! Und der ganze Traum von der alten Grösse, vom deutschen Kaiser, verschwunden! -
Am Abend.
Lassen wir das. An dem Tage, an welchem Ihr Francesco oder mein Franz sich die 9 Zähne ausziehen liess, haben wir noch aus den 7 Raben musicirt! Er konnte nicht arbeiten, & als ich ihm etwas singen wollte, sagte er mit einigem Ekel: nur nichts von mir. Was denn? frug ich kleinlaut, & er legte die 7 Raben auf's Clavier. Hier am Theater schweigt alles davon. Der böse Geist, Capellmeister Schmidt, hat wieder alle Gewalt in Händen, & als mein Mann ihn nach der langen Abwesenheit wiedersah, hat er sich gefreut, dass er nicht etwa wieder mit einer neuen Oper käme, denn er habe all' das Zeug abweisen müssen, es sei eben Alles nicht zu gebrauchen. Nach diesem Eingange hat sich F/ranz/ garnicht mit einer Frage nach den 7 Raben herausgetraut.
In Weimar verlautet auch nichts, Franz thut dort keinen Schritt mehr. Neulich war Herr v. Milde hier - an der Oper in W/eimar/ angestellt & von Einfluss - Franz fragte nach unsern beiden Opern, d.h. ob in W/eimar/ an die Aufführung gedacht werde - er hat gesagt, vom Haideschacht sei vorübergehend die Rede gewesen, von den 7 Raben wisse er garnicht! Das sind schöne Erfolge nach einem so hoffnungsvollen Anfang! Sie wissen doch, dass der 1. Capellmeister Lassen in W/eimar/ ganz Wagnerianer ist & nichts andres aufkommen lassen will, & dass Müller-Hartung, der 2., viel conservativer & ein guter Musiker ist, der den Haideschacht zu dirigiren sich ausgebeten hat, & darum schon hat Lassen ihn zu ewiger Finsterniss verdammt. Sie können sich doch mit dem Requiem trösten, es ist gewiss ganz herrlich! Ich beneide Sie sehr darum, dass Ihr Gatte die Harfen im Allerheiligsten ertönen lässt: Gott zu loben in geistlichen Gesängen ist Engelsbeschäftigung im Jenseits & bringt den Himmel auf Erden. Und Sie mit Ihrem Latein und all' den ernsten Studien, und auch dabei die Nähmaschine? Wo nehmen Sie die Zeit nur her! W i r haben gewiss viel zu viel Verbindungen, die zersplittern. Ja, wenn man mehr Zeit hätte! Und das Innere Gejagtsein durch Pflicht und Neigung darf man sich nicht einmal merken lassen, sonst wird man auf beiden Seiten unbehaglich & ungeniessbar. -
Wir freuten uns herzlich, dass es zwischen Ihnen & Alfred Schöne noch ein gutes Ende genommen, er schrieb uns aus München & seitdem nicht wieder. Volkland wird sich sehr über Ihren Gruss freuen, wir sehen ihn jetzt fast täglich, da der arme Schelm um seine Direction an der Euterpe [1] gekommen ist. In Folge des Krieges haben sich so wenige Abonennten für die Euterpe gefunden, dass sie aufgehört hat zu existiren, & Volkland, der fest engagirt war, hat sich jedes andere Engagement deshalb entgehen lassen & nimmt nun aus Generosität auch keine pecuniäre Entschädigung an. Er ist ein nobler, stolzer Charakter, trotz seines Jugendübermuths. Um ihn ein klein wenig zu stützen, habe ich Begleitstunde bei ihm, d.h. ich singe & er spielt, was uns beiden grosse Freude macht, denn er weiss mich so zu begeistern, dass mir die Stimme auf meine alten Tage wieder kommt & wächst. Ich darf aber nur singen, wenn Franz turnt, in der Dämmerstunde, sonst darf ich nie einen Ton anschlagen. -
Unsre Morgenwege in's 'Rosenthal', so heisst ein naher Wald bei Leipzig mit Parkwegen, die sich stundenweit hinziehen & sehr reizvoll sind, haben wir wieder aufgenommen. Wir frühstücken dort, lesen Zeitungen & gehen politisirend oder auch ganz stillschweigend in dem raschelnden Laube & an dem stillen Wasser dahin. So verspaziere ich die beste Arbeitszeit, aber ich habe dafür den Geliebten ganz & ungetheilt, wie zu keiner andern Zeit des Tages. -
Neulich fand ich eine herrliche Photographie von Ihrem Gatten bei Franz, ich ärgere mich, dass von Ihnen kein gutes Bild existirt, ausser in meiner Fantasie oder in meinem Herzen. Können Sie sich nicht selbst zeichnen? Bitte thun Sie das für
Ihre
H/edwig/ v/on/ H/olstein/.
Ich wundere mich, dass Ihnen 'klein Anna Cathrein' [2] gefällt. Mögen Sie nicht 'Augen sagt mir, sagt was sagt ihr' lieber?[3]"