Adolf Ströll beschreibt Jos. Rheinberger seine Zeit als Offizier während des Krieges


Brief von Dr. Adolf Ströll, Schüler Rheinbergs und späterer Direktor der Bayer. Hypoth. -u. Wechsel-Bank in München, an Jos. Rheinberger


Orleans, 30. October 1870

Hochverehrter Herr Professor!

Oft und viel habe ich während meiner dornenvollen überrheinischen Kreuz- und Querzüge an Sie gedacht und mehr als einmal die Feder in der Hand gehabt, um Ihnen ein Lebenszeichen aus dem wälschen Land zu senden, aber in diesen grossen, schweren Tagen ist es gewiss das erste und nächste Recht der bekümmerten Angehörigen, ihre Sorgen gestillt zu wissen und so war es mir fast in jeder freien Minute Gewissenspflicht, den Meinigen Nachricht zu geben, dass meine 'Feuertaufe' bisher fortdauernd von gutem Glück begleitet gewesen.

Mit namenlosem Bedauern erfuhr ich von meinem Bruder, dass Sie gleich in den ersten Tagen des Feldzugs einen freundschaftlichen Gruss an mich abgehen liessen. Dass es doch mit unserer Correspondenz gar so wenig klappen will. Ich erhielt bis zur Stunde Ihren Brief noch nicht, vermutlich in Folge irgend einer unbedeutenden Ungenauigkeit der Adresse. Wie sehr erwünscht wären mir gerade in jenen Tagen Ihre Zeilen gekommen, die mir physisch und moralisch entschieden die allerbittersten waren. Briefe waren mir dazumal der einzige Trost in meiner vollständigen Verwaistheit und sind überhaupt zu jeder Zeit eine Hauptstütze für mich gewesen, wenn die Kräfte  im Übermass der Anstrengungen oder unter dem Drucke eines saftigen moralischen Katers zu erlahmen drohten. Jetzt, in Orleans, meiner mit allen materiellen Annehmlichkeiten wolversehenen und trotz aller Requisitionen und Contributionen noch lange nicht erschöpften Stadt verschnaufe ich etwas von dem grenzenlosen Trubel meines bisherigen Feldzugslebens. Er erreichte gerade in den letzten Tagen meines Dienstes beim II. Corps seinen Culminationspunkt, und an den perfiden Abschiedsgruss, den mir die Pariser durch den schlimmen Ausfall bei Chatillon und Bagneux mit auf den Weg gaben, werde ich mit Respekt mein Leben lang denken.

Die Ruhe hier in Orleans, freilich auch nur in relativem Sinne, thut mir unbeschreiblich wohl. Sie steht in einem ganz fabelhaften Contrast zu den ebenso aufregenden als auch aufreibenden Strapazen, die den Dienst vor Paris zu einer fast unerträglichen Höllenmarter machen. Ich merke an der auffallend wohlthätigen Wirkung, die der bisherige kurze Aufenthalt in Orleans auf mein ganzes Sein ausübt, erst recht, wie sehr ich einer kleinen Ruhepause bedurfte.

Orleans selbst nimmt mehr und mehr eine Friedensphysiognomie an. Morgens auf der Wachparade bummelt man unter einer Unmasse bekannter Gesichter aus den Tagen des unvergesslichen Tombosi, bei der Abendmusik am Platze der 'Jungfrau' entdeckt man einen neuen guten Bekannten nach dem andern, den man auch weiss Gott wo anders gesucht hätte, nur nicht in Orleans. Wenn nicht die zerschossenen Häuser der Faubourgs sowie die Verwundetentransporte, die Tag für Tag mehr oder weniger stark von unsern Vorposten zu den hiesigen Ambulancen kommen, den fortdauernden Ernst der Situation kennzeichneten, man könnte wirklich meinen sich inmitten einer friedlichen Garnisonsstadt aufzuhalten.

Mein gegenwärtiger Dienst ist ebenso leicht als monoton. Tägliches Exerciren auf den Boulevards vor den neugierig gaffenden Massen, häufige Wachen, Paraden und ähnliche Freuden eines steifleinenen Garnisonsdienstes. Jeden Sonntag ist grosse Kirchenparade aller hier liegenden Truppenabtheilungen in der herrlichen Cathedrale. Die Anwesenheit der gesamten Generalität, die Massen der Uniformen, dazu die Choralklänge der combinirten Musikkorps, Alles das verleiht dem Ganzen eine eigenthümlich weihevolle Stimmung.

Die Verpflegungs- und Einquartierungsverhältnisse sind recht zufriedenstellend. Der Offizier wird vom Hauswirt selbst verpflegt oder bezieht im Falle nachgewiesener Unmöglichkeit 10 francs täglich von der Stadt. Bei mir ist erstres der Fall und ich befinde mich höchst wohl dabei, denn ich würde in hiesigen Hotels um 10 francs gewiss nicht halbwegs die Verpflegung finden, die mir die alte Köchin meines Hauses unter Zittern und Zähneklappern (vor meinem Lieutenantsstrich allein natürlich) bereitet! Der Besitzer des Hauses ist verduftet und ich hause somit mit meinem Famulus vollständig selbständig. So würde ich herrlich und in Freuden leben, wenn nicht eine schwere Calamität über uns allen waltete, und das ist der permanente Cigarrenmangel. Alles lechzt nach einem Glimmstengel und wäre er noch so niederträchtig schlecht. Ich hoffe, dass in den nächsten Tagen mein ununterbrochenes Winseln nach diesem unentbehrlichen Gut von zu Hause gestillt wird. Denn cigarrenloses Leben ist halbes Leben. Im übrigen rufe ich Ihnen ein herzliches 'auf Wiedersehen' zu, darüber zwar bin ich längst resolvirt, dass ich mir meinen Weihnachtsbaum auch heuer wieder in der Fremde aufputzen werde. Aber dafür wird, so Gott will, geschmückt sein mit einer Reihe herrlicher, denkwürdiger und ruhmreicher Erinnerungen, wie die Geschichte sie in unseren Tagen nicht so leicht ein zweitesmal verzeichnen wird.

Nach der gestrigen Jubelnachricht von der Capitulation von Metz bin ich überdies Optimist, wie es in der ganzen deutschen Armee vielleicht keinen zweiten gibt. Möge meine Hoffnung auf einen endlich sehnsüchtigst erwarteten Frieden nicht enttäuscht werden.

Mit den allerwärmsten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin
Ihr
ewig dankbarer
Adolf Ströll

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