Hedwig von Holstein berichtet Fanny über den Besuch der Passionsspiele in Oberammergau


Hedwig von Holstein schreibt an Fanny:


Garmisch d. 26t. Juny.

Liebe Freundin!

Still niederrieselnder, endlos scheinender Regen fesselt uns in ein kleines Schlafzimmerchen, in welchem wir durch besonders künstliches Hin- & Herschieben aller Möbel so viel Platz gewonnen haben, um einen Stuhl vor den Tisch zu zwingen, und nun können wir abwechselnd schreiben.

Natürlich kommen Sie, liebe Frau Rheinberger, zuerst an die Reihe, denn wir sind noch voll Dankes & Lobes für den Münchener Abend, obgleich für uns schon viel dazwischen liegt. Jeder Besuch in München bestätigte unsre Liebe & Verehrung für Sie Beide. Auch Ihren Gesang hatte ich mir s o & nicht anders gedacht. Künstlerisches Durchdringen des Ganzen, stimmungsvollste Wiedergabe, energisches Überwinden aller Hindernisse des Materials, immer den Gedanken des Ganzen vor Augen, verlieren Sie sich nie in eine störende Einzelheit. Ich weiss nicht, ob ich mich recht ausdrücke. Obgleich ich dieselben Intentionen habe, lasse ich mich doch leicht stören durch ein Missglücken irgend einer Einzelheit, & meine kleine Stimme klang recht kindisch auf Ihre tiefen, dem Innersten entquellenden Brusttöne! Die wunderschönen Lieder habe ich gleich, nachdem wir uns von Ihnen verabschiedet, gekauft, leider konnte ich No. 4 (Ein Engel leite dich? [1]) nicht bekommen, es sei einzeln verkauft worden. Auch musste ich sie meiner Helene schenken, da sie mir alle zu tief liegen. Den verpflanzten Baum [2] will ich mir transponiren. Wir gingen noch zu /unleserlich/, der uns ein leidliches Clavier für Oberstorf überliess, & Abends kamen - statt der lieben Rheinbergers - Joseph Hausers, beide begeistert von der Nallinger & von der Norma, was dem Sänger als solchen verziehen werden muss! -

Die Fahrt im Omnibus war so wenig erfreulich, dass wir über die Hälfte zu Fuss gegangen sind & doch lieber die 50 fl. für einen Separat-Wagen gegeben hätten. Der alte Kasten schwankte dergestalt, dass das Tegernseer Ititzett uns alle Augenblicke in die Gedanken kam, 14 Personen, unzählige Koffer & zwei ganz schwache Pferde! Dazu auf dem Ettaler Berg, wo alle aussteigen, unter einer unübersehbaren Karawane von Wagen & Pferden, alle Kutscher fluchend, peitschend, die Wagen haltend, die Pferde auf dem Bauche liegend & dampfend wie die Locomotive! Ich setzte mich um keinen Preis wieder rein & ging bis Ammergau zu Fuss bei einem herrlichen Abend. Das Örtchen war reizend im Festkleide & in der Erregung aller Einwohner. Es war kein Jahrmarktstreiben unter den Tausenden von Fremden, nur Festfreude & gespannteste Erwartung. Wir waren beim Fischmeister einquartirt, assen zu vier an einer Commode, unserm einzigen Möbel, abwechselnd mit 2 Messern und alles aus Waschbecken. Die Betten hätten wir mit Leitern erklimmen müssen, wenn wir nicht die Hälfte davon der beglückten Wirthin vorher wiedergegeben hätten. Die guten Menschen wollten ihr Letztes für die Gäste geben & verlangten schliesslich ein so Geringes für die Zeche, dass wir uns schämten. Es ist noch keine Spur von Verderbniss durch den Verkehr mit der Welt in diese frommen Leute gedrungen, nicht die geringste Gewinnsucht wird sichtbar, ein wahres Wunder in unsrer Zeit. -

Ich konnte kaum schlafen vor Erwartung auf das Spiel, seit 20 Jahren hatte ich es ersehnt, & nun sollte ich es wirklich haben, sehen, fassen! - Abends hatte ein Gewitter die Luft gereinigt, das Wetter war äusserst günstig.

Doch wie soll ich nun von dem Eindruck sprechen, den das Passionsspiel auf mich machte? Es ist derselbe, den Sie vor ächten Bildern von Fiesole empfinden. Alle Reinheit, alle Unschuld des Paradieses, die Unberührtheit von der Welt, die ganze Grösse & Heiligkeit des Christenthums bis zum erschütterndsten Ernst, mit der ganzen Wucht der sichtbaren Wirklichkeit vor Augen gefuhrt, sodass man es kaum zu tragen vermag, - s o hat es auf uns gewirkt! - Der Einzug zu Jerusalem (Palmarum), wo Christus zum ersten Mal erscheint, hat mich so vollständig überwältigt, dass ich mich kaum zu fassen vermochte. Zwar hält diese Stimmung nicht aus, denn die Länge der Vorstellung ermüdet dergestalt, dass jedes Fassungsvermögen (wenigstens bei uns) aufhörte, aber die letzten Scenen, die Kreuztragung, der Abschied von der Mutter Maria, die Kreuzigung, die Abnahme vom Kreuz ganz besonders sind von solcher Wirkung wie das ungeheuerste eigenste Erlebniss. -

Sie müssen es sehen, liebste Frau, schieben Sie es nicht auf, man kann nicht wissen, was später für Hindernisse kommen. -

Ich fürchte nicht, dass Sie, kaum dass Ihr lieber Mann sich von dem musikalischen Theil verstimmen lassen könnte, man lächelt eben darüber wie über ein Kinderconcert. Irgendwelche Kritik zu hören war uns unerträglich. Die Musik ist von einem Lehrer, der nie in eine Stadt gekommen, im haydn'schen Styl geschrieben & erinnert oft stark an die Zauberflöte. Der Chor oder "die Schutzgeister" singen mit solcher Hingebung & in ihrer Weise mit solcher Sicherheit, dass es wahrhaft rührend ist.

Von der Colloratur-Sängerin war der Dirigent höchst erbaut, sie quikt die hohen Tone & schnurrt ihre Rouladen herunter, dass es ein wahrer Spass wäre, wenn es ihr selbst nicht so heiliger Ernst wäre. Wie dieser Chor kommt und geht, wie er da steht & singt einzig zur Ehre Gottes, nicht für das Publikum, wie jeder Sänger innerlichst erfüllt ist von seiner Aufgabe, so dass ihm nie eine Silbe, nie eine Note fehlt, wie Alles weit über die Kräfte jedes Einzelnen geht, & wie es doch jeder möglich macht, es ist unsäglich bewundernswerth! Sie sehen alle wie Fiesole'sche Gestalten aus, Männer&Frauen ganz gleich gekleidet in einer idealen priesterlichen Tracht, die wundervoll steht.

So kommen & gehen & stehen sie, acht Stunden lang, der brennendsten Sonnenhitze wie dem Schlagregen ausgesetzt, immer mit gleicher Würde, mit demselben Ausdruck heiliger Verzückung. Wer hört es dann noch, dass sie unrein, dass sie kindisch singen?

Ich bin Gott innigst dankbar für diesen Genuss. Data es solchen auf Erden gäbe, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich bin überzeugt, dass Sie sich eben so erhoben fühlen werden, liebste Frau!

Wir gingen zu Fuss nach dem Spiel bis Oberau, wo ein ideales Gasthaus uns aufnahm. Nun wollten wir uns an der Partenkirchener Gegend erfreuen, wo wir vor 16 Jahren unsere Flitterwochen verlebten, aber es regnet.

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Von ganzem Herzen Ihre Hedwig von Holstein.

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[1] Recte: Nr. 4 "Mein Engel hüte dein" aus op. 55 Nr. 5.
[2] "Der verpflanzte Baum" op. 55 Nr. 5.