Ein weiterer Brief von Hedwig v. Holstein an Franziska Rheinberger, datiert vom 15. Mai 1870:
Geliebte Freundin!
So hatte ich doch richtig gefühlt in all' diesen letzten Wochen! Eine grosse Bangigkeit empfand ich für Ihren Gatten & für die Todesangst, die Sie würden tragen müssen. Gestern konnte ich es nicht mehr aushalten, nichts zu wissen, & heute wollte ich schreiben & Sie um Nachricht anflehen - da kam Ihr Brief, & ich danke nun Gott, da es besser geendet, als ich zu Anfang dachte. Sie Arme! Gott sei Dank! Gott sei Dank! –
Wie kann ich mir Ihre Zweifel & Qualen in Bezug auf den Arztwechsel vergegenwärtigen! So die Folgen auf sich nehmen zu müssen! –
Ich komme immer mit Analogien in Bezug auf meines Mannes Leiden. Wie einstmals im bairischen Gebirge ein Steinbruch über ihn ausgeleert worden & nur ein Wunder ihn vom gewissen Tode errettet hatte, & nur eine kleine Wunde geblieben, - wie diese Wunde erst rasch geheilt, dann durch ein Gedicht, was er im Kopfe hatte (schreiben & musiziren durfte er nicht) sich von Neuem entzündete & in der Nacht so schlimm wurde, dass er mir sagte, er könne es nicht aushalten - wie dann der Arzt erst in der Nacht um 2 Uhr kam (ein ganz junger Mann, von dem ich nichts wusste) & mir sagte, die Entzündung habe das Gehirn ergriffen - wie er mir auf's Leben anbefahl, die geheilte Wunde durch warme Umschläge wieder aufzuziehen, & er dann fortging, mich auf einer Bodenkammer allein lassend, stundenweit ohne Hilfe - wie die warmen Umschläge dem Geliebten die entsetzlichsten Schmerzen bereiteten, & er mich bat, ich möge ihn damit wenigstens nicht noch quälen - & ich nicht wusste, was thun! -
Ich gehorchte doch dem jungen Arzt, er kam am andern Tage, fand es schlimmier, verordente Blutigel [1], & kurze Zeit vorher hatte mir unser Arzt gesagt, "lassen Sie Ihrem Mann nie Blut entziehen, es ist gefährlich für ihn" - & dieser sagte, "wenn Sie nicht gleich es thun, ist er verloren" - ich that es abermals, musste aber bis Abend 9 Uhr auf dies Mittel warten, weil wir so weit ab von aller Hülfe waren, & siehe, er war gerettet! - Vor der Abreise sagte uns freilich dieser selbige kluge, junge Arzt, Franz habe einen Herzfehler & wir müssten stets auf das Ausserste gefasst sein - jede Aufregung, jede Überanstrengung, jeder rasche Lauf könne sein plötzliches Ende herbeiführen. Mit diesem Trost reisten wir damals aus der Ramsau ab, - & jene Prophetie klingt unaufhörlich in mir fort. –
Ach, wie köstlich wird Ihnen der Frühling erscheinen am Arme des Genesenden! Wie herzlich freuen wir uns mit Ihnen! Wir haben jetzt so viel Trauer in der Freundschaft, die liebe junge Frau, von der ich Ihnen schrieb, ist gestorben, hat aber alle die Ihrigen in der Abschiedsstunde zu Gott geführt & wunderbar getröstet. Sie hatte das Glück, das allerhöchste Glück, mit Bewusstsein zu sterben & Lichtblicke des Jenseits auf die Zurückbleibenden strahlen zu lassen. Alle, die gegenwärtig waren, haben den Himmel offen gesehen. –
Die Biographie meines Mannes ist nach einem alten Tagebuch gemacht worden & erbaut mich wenig. Ich hätte sie gern geschrieben, aber Franz wollte es nicht. - Er hat in der Jugend ein wahrhaftes Märtyrerthum für die Kunst gelitten, & wenn es Einem zu gönnen ist, an's Licht zu kommen, so ist er's.
Er grüsst tausend Mal, so wie Ihre
Hedwig v.H.
(An die Briefränder geschrieben):
Können Sie es begreifen, dass Franz in den schrecklichen Tagen, wo sein bester Freund die Frau verlor, auf das eifrigste an seiner Komischen Oper componirte? Das war nicht Mangel an Theilnahme, sondern übergrosse Aufregung. Als seine Mutter starb, machte er's gerade so, sodass ich ausser mir war, wie er Musik machen konnte bis zu dem Augenbuck, wo sie verschied. Ich sprach jetzt mit einem Maler darüber, Friedrich Preller, er sagte mir, dass fast alle Künstler im höchsten Schmerze am productivsten seien & auch zugleich sich durch die Arbeit dem Eindruck entziehen woliten. Was sind doch die Künstler für wunderliche Heilige! –
Erst beim Couvertiren des Briefes sehe ich, dass ich 2 Bogen nahm. Verzeihen Sie mir diese Dummheit, wie so manche andere! - Neulich war ich einen ganzen Nachmittag von 3 - 1/2 8 Uhr mit Liszt zusammen, im kleinsten Kreise! Mary Krebs war bei uns auf Besuch, & Liszt war extra deshalb nach Leipzig gekommen, um sie spielen zu hören, das heisst um zu erproben, ob sie für das Beethoven-Fest im Weimar ihm genüge. Ich musste sie auf ihren Wunsch bemuttern, da Franz sie nicht besehen wollte.
Er war mir sehr interessant, der bedeutende geistvolle Mann kann nicht geleugnet werden, auch hat das Alter manches in seinem Wesen gemildert. Sie spielte sein Concert, & er spielte das Orchester auf einem andern Flügel. Das 18-jährige Mädchen hatte eine fabelhafte Haltung ihm gegenüber, sie sagte statt aller Phrasen: ich hoffe, "Sie werden mit mir zufrieden sein". So war es auch, seine Zufriedenheit steigerte sich immer mehr. Sie spielte ihm noch massenhaft vor, u.a. die Etude mit den falschen Noten von Rubinstein & die Toccata von Schumann, die beiden Stücke gefielen ihm am besten von ihr. Auf Rubinstein raisonirte er sehr giftig. –
Er führte wieder die bewusste polnische Gräfin mit sich, (es ist inmer eine andre, scheint aber typisch geworden bei ihm), eine begeisterte Schülerin & wer weiss was sie ihm noch ist, ganz in pense Sammt & weissen Schwan gekleidet & nur französisch sprechend. –
Mich fasste er bei beiden Händen, sah mir comödienhaft tief in die Augen, & dankte mir (mich als Concertmutter auffassend) für die grosse Freude, die ihm diese ächte grosse Künstlerin gemacht habe. "Sagen Sie es ihren Eltern, sie sei - sei eine achte grosse Künstlerin, ich halte sie dafür", und dieses Ich unterstrich er sprechend mit rother Tinte. –
Einige Jünger waren um ihn, einer fiel ihm einmal zu Füssen, da kam gerade David ins Zimmer & er schämte sich. Erst war die Rede davon, dass L/iszt/ in's Theater gehen wollte, dann wurd's wieder aufgegeben, "zu was solle er sich zeigen! Lieber nicht!" Als wenn er der Papst ware, dessen Nähe und Gegenwart überall einen Segen verbreitet, mit dem man ökonomisch umgehen müsse. Seine Jünger sind viel verrückter als er selbst.
Da haben Sie doch noch was Amüsantes durch den verkehrten Brief. Franz war heilfroh, als ich das und noch viel mehr erzählte, dass er nicht dagewesen war.