Wilhelm Heinrich Riel berichtet ausführlich in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 148 vom 28. Mai 1869 über "Die sieben Raben"


In der Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 148 vom 28. Mai 1869 schreibt Wilhelm Heinrich Riehl über Rheinbergers Werk:


"DIE SIEBEN RABEN"
Oper von Joseph Rheinberger

München, 25. Mai. Es gibt gegenwärtig Opern zum Hören, Opern zum Sehen und - als höhere Einheit - Opern bei welchen einem Hören und Sehen vergeht. In München wurde am 23. Mai Joseph Rheinbergers Oper „Die sieben Raben" zum erstenmal aufgeführt: sie ist eine Oper zum Hören. Schon diess reizt unsere Aufmerksamkeit; denn die musikalischen Opern werden immer seltener. Die Oper gewann einen echten Erfolg, und auch der Beifall entwickelte sich in einer gewissen musikalischen Scala: mässig, doch fest nach dem ersten Act, warm und lebhaft nach dem zweiten, begeistert nach dem dritten; er wuchs gleichsam von selber mit der Oper. Das ist die ungewöhnlichere Form des Beifalls. Allein am merkwürdigsten erscheint doch dass dieser Beifall der Schönheit der Musik galt, den plastisch klaren, seelenvollen und melodiereichen Liedern, Arien, Duetten, Terzetten und Quartetten, bei welchen seltsamerweise nicht das Orchester von den Sängern begleitet wird, sondern umgekehrt die Sänger vom Orchester. Eine deutsche Oper die in vorderster Linie schöne Musik gibt und dann erst in und mit derselben Charakteristik, ist heutzutage fast etwas neues geworden und heischt darum unsere Beachtung.

Moriz v. Schwinds reizender Aquarellen-Cyclus des Märchens von den sieben Raben führte wohl zur Wahl des Textes. Allein das Malerische ist meist am wenigsten dramatisch und umgekehrt das Dramatische selten malerisch, und wie sich ein kluger Maler hüten soll Scenen aus Dramen zu malen, so ist es auch gefährlich ein Bühnenwerk auf Bilder zu bauen. Der Textdichter, Franz Bonn, vermied diese Klippe, welche den schönsten Anlass bot recht interessant durchzufallen; er griff nur drei grosse Hauptmotive aus dem Märchen und gestaltete die Handlung ganz einfach; was der Text dadurch an Originalität verliert, das muss eben die Musik wieder einbringen, und sie hat es eingebracht.

Jeder Act besteht eigentlich nur aus einer in sich abgerundeten Doppelscene. Der erste entwickelt die Liebe Elsbets und des Fürstensohns. Elsbet, das arme Kind, die Schwester der sieben in Raben verwandelten Brüder, sitzt in der tiefen Waldeinsamkeit und spinnt an den sieben Hemden, durch welche sie ihre Brüder in sieben Jahren schweigend und harrend erlösen soll. Der Fürstensohn Roderich als Jäger wirbt um ihre Liebe. Ein Jägerchor, Hörnerklang, Liedersang und ein feuriges Duett der Liebenden versetzen uns musikalisch in die Heimlichkeit des deutschen Märchenwaldes und in die Situation. Aber Roderich führt das verlassene Kind aus dem Walde zum Hof seiner Mutter, und erklärt sie dort als seines Herzens Königin. Im Widerspruche der Mutter, im Groll ihres Stiefbruders Eckart, in der muthigen Treue Roderichs und der Klage Elsbets wächst die vorher bloss lyrische Musik zum dramatischen Finale, welches mit dem schneidenden Ausspruche des Conflicts schliesst, leidenschaftlich bewegt, doch ohne alle höhere Musikquälerei.  Der zweite Act zeigt uns zunächst wie die arme Elsbet durch den Zauber ihrer Unschuld und kindlichen Anmuth das Mutterherz der Fürstin besiegt, und das höchst innige zarte Lied, welches solches Wunder wirkt, gestaltet sich zugleich zum musikalischen Wendepunkt und leitet durch ein Duett der beiden Frauen bereits zu dem hochzeitlichen Festjubel der zweiten Hälfte des Acts über.

Dazwischen aber erscheint Eckart noch, der durch einen Diener das Geheimnis von Elsbets nächtlichem Spinnen und den Raben erfährt und sie dadurch zu vernichten unternimmt. Zunächst jedoch wächst die Musik immer lauter und fröhlicher; die Arie des Bräutigams, das Terzett der Fürstin und der beiden Liebenden, die Chöre der Edeldamen und des Volks sind prächtige Tonstücke, voll Glanz und Farbe, Sang und Klang. (Nur das unvermeidliche Ballett könnte füglich wegbleiben; das deutsche Märchen hat mit diesen sinnlosen, frivolen Sprüngen nichts zu schaffen.) Da bricht Eckart mit der heiligen Vehme in den Jubel des Hochzeitsmarsches, und klagt Elsbet der Zauberei an. Sie muss schweigen; die Raben welche als stumme Ankläger durch die Luft flattern, zeugen wider sie, und trotz des Widerstrebens Roderichs und des Volks wird Elsbet zum Kerker geführt. So hebt sich hier der Conflict des ersten Finale's zu einem höhern tragischen Conflict, der in entsprechender musikalischer Steigerung gipfelt.

Der letzte Aufzug beginnt im Kerker (schöne Arie der Elsbet), die Richter sprechen ihr verdammendes Urtheil. Der innere Kampf Elsbets, die ihr Schweigen nicht brechen will, Roderichs, der sie vergebens um ein lösendes Wort anfleht, die Fürstin, welche das Mädchen gerettet sehen möchte, Eckarts, der auf Vollzug des Urtheils dringt, des Dieners, der über seinen anklagenden Bericht jetzt in verzweifelnde Reue versinkt, das alles spricht sich in einer Folge tief leidenschaftlicher Tonsätze aus, welche sich zu einem höchst wirksamen Quartett zusammenweben. Elsbet wird zum Scheiterhaufen geführt, da im letzten Augenblick schlägt die Stunde, welche die verzauberten Raben erlöst, als sieben Prinzen kommen sie auf sieben bäumenden Rossen einhergesprengt, nicht etwa auf sieben Theaterschimmeln, sondern nach der bekannten Zeichnung Schwinds als höchst malerisches Hintergrunds-Tableau, sie befreien die Schwester, und alles Leid wendet sich nun zum hellen Glück und zum hymnenartig aufjubelnden Schlusschor.

Denkt man sich zu dieser einfach wirksamen, obendrein in gute Verse gefassten Handlung den breiten Strom schönen und edlen Gesanges und eine ausgezeichnete Wiedergabe aller Hauptrollen, vorab der Elsbet durch Frln. Stehle, so wird der bühnenkundige Leser den Erfolg wohlbegründet und begreiflich finden. Die Oper verdient nicht bloss auf dem Münchener, sondern auf dem deutschen Repertoire dauernd zu bestehen.

Nach dieser Analyse des Werkes will ich aber auch noch ein Wort vom Componisten reden.

Wenn uns gegenwärtig schon eine musikalische Oper, eine Oper zum Hören an sich überrascht, so überraschte sie doppelt als ein Werk Rheinbergers. In München und anderwärts wird man Rheinberger viel gutes zutrauen, und doch hätte man ihm gerade eine Oper dieser Art wohl am wenigsten zugetraut. Der junge Künstler ist von Haus aus Instrumentalcomponist, und hat in der Kammer- und Kirchenmusik die erste Schule seiner Productivität gemacht. Ein Quintett [1], dann ein im strengen polyphonen Styl gearbeitetes Stabat mater erregten vor Jahren Aufmerksamkeit, Clavierwerke kamen hinzu, und alle diese Musik charakterisirte sich besonders durch die Leichtigkeit mit welcher der Componist contrapunktische Formen erfand, handhabte und der modernen Schreibart anbequemte. Das deutete nicht entfernt auf einen wirksamen Opernstyl. Durch die Musik zum "wunderthätigen Magus“ und zu Raymunds "unheilbringender Krone“ näherte sich Rheinberger dann allerdings der Bühne, allein mit symphonischen Instrumentalsätzen, die den Kennern gefielen weil und insofern sie eben gar keine rechte Theatermusik waren, viel zu fein für das conversirende Zwischenacts-Publikum. Auch die bekannte Wallenstein-Symphonie des Künstlers liess keineswegs den berufenen Operncomponisten ahnen; denn die Schwäche dieses sonst so tüchtigen Werkes scheint mir eben darin zu liegen, dass es gedrückt wird von dem Streben nach dramatisirender Charaktermalerei, statt sich frei in derselben zu erheben.

Und nun nach allen diesen tapfern Vorarbeiten, die eher auf alles andere als auf den musikalischen Bühnenberuf des Autors deuteten, überrascht er uns mit einer echt lyrischen Oper; während seiner Musik sonst etwas sprödes und herbes besonders eignete, wirkt hier zumeist die warme Innigkeit des Ausdrucks; während Rheinberger sonst überwiegend instrumental erfand und ausführte (auch in seinen Liedern), sind in der Oper die rein instrumentalen Nummern (Ouverture, zwei Märsche und Ballett) weniger gelungen als die Gesangstücke, und diese zeichnen sich wiederum aus durch echt sangbaren Fluss der Melodie. Rheinberger lernte zuerst setzen und dann singen. Ein seltener Weg. Allein er hat auch in der Oper nicht vergessen, dass er setzen kann, und gerade die Verbindung jener Plastik des Aufbaues der Tonsätze, welche dem Instrumentalisten nahe liegt, mit einem freien und melodischen Gesang bildet einen grossen Vorzug der besten Nummern seiner Oper.

Es wird heutzutag viele Musik componirt die höchst interessant ist und höchst unerfreulich, da freut es einen dann zwischendurch auch eine neue Musik zu hören die interessant ist und erfreulich zugleich.

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[1] Da die beiden Quintette Rh's, das Streichquintett op. 82 und das Klavierquintett op. 114, später entstanden, scheint der Schreiber - falls es sich nicht um die Verwechslung mit einem anderen Werk handelt - das unveröffentlichte Streichquintett in D-dur (JWV 35), komp. 1855, gekannt zu haben.