Fanny Rheinberger schreibt Johann Peter Rheinberger nach ihrem ersten Besuch in Liechtenstein über alltägliche Familienangelegenheiten.


Brief von Fanny Rheinberger an Johann Peter Rheinberger
5. Oktober 1868,  München

Mein theurer Vater!

Die lieben, bedeutungsvollen Tage des October [1] nahen heran und ich sehe im Geiste in das liebe, kleine Häuschen, um Sie, lieber Vater und liebe Mutter, recht innig zu begrüssen und zu umarmen. Möge Ihnen der liebe Gott viele zufriedene Tage schenken und Sie Freude an Ihren Kindern erleben lassen! Kurt vereinigt seine bessten Wünsche mit den meinigen und hofft, dass Ihr Wohlsein und heiterer Sinn fest andauern, bis wir uns wiedersehen! -

Wie viel ist seit unserer Überfahrt über den Rhein [2] im schönen Heimathland geschehn?!

Erinnern Sie sich noch, lieber Vater, wie damals der Fährmann sagte, es könne ihm nichts Lieberes begegnen als wenn die Kette an der Fähre risse und das Schiff einmal den Rhein hinuntertrieb! Und nun?!

Ist das Wasser bei der zweiten, noch grösseren Überschwemmung [3] nicht auch bis zu Ihrem Hause, d.h. tiefer als bis zum Keller gedrungen? David schrieb eben, als das Wasser noch im Steigen war.

Wir hatten indessen fast gar keinen Regen; nur trübe war der Himmel und die Blätter fallen jetzt Alle traurig zur Erde. Morgen wollen wir zum erstenmale Kurt's Studirzimmer heitzen.

Wir sind jetzt Beide in voller Arbeit um den Clavierauszug der neuen Oper zu machen. Ich schreibe alle Singstimmen aus und lasse darunter zwei Notenzeilen leer stehen, welche Kurt dann mit der Clavierbegleitung ausfüllt. Wir arbeiten uns auf diese Weise in die Hände und es ist so für keinen zu ermüdend.

Vorgestern brachte Baron Redwitz (der Dichter der Amaranth und vieler Schauspiele) sein 16jähriges Töchterchen und bat, dass sie Kurt unterrichten möge, da sie ausserordentliches Talent habe. Auch der Sohn von General Bar. Kratzeisen macht ihm viele Freude. -

Es unterhält mich oft, zu sehen, welchen Respekt die Schüler vor Kurt haben. Es getraut sich Keiner, eine Sylbe zu reden und wenn die Stunde zu Ende ist, haben sie meist ganz purpurrothe Köpfe vor Aufmerksamkeit und Angst. - Von der Oper werden uns die Stimmen für das Theater ausgeschrieben, damit die Rollen vertheilt werden können.

Kurt hat auch schon wieder mehrere Stücke für die Orgel [4] componirt und spielte sie mir neulich im Saale der Musikschule vor.

Heute war ein neuberufener Hülfs-Lehrer der Musikschule, ein reicher Herr von Saar bei ihm, um sich noch von Kurt genau sagen zu lassen, wie er den Unterricht geben solle. Es ist nicht so leicht, ein guter Lehrer zu sein.

Mein Papa ist noch immer sehr schwach auf den Füssen. Am Sonntag speisen wir dort, weil da der 18. ist [5]; wir wollen da auch ein Gläschen auf Ihr und der lieben Mutter Wohl leeren.

Wie geht es Peter? Ich schrieb ihm vor ein paar Tagen und bat ihn, Maly und David für ihre Briefe zu danken. Auch an Toni einen recht herzlichen und guten Gruss. -

Wir haben jetzt die Geschichte Liechtenstein's von Kayser [6] aus der Hofbibliothek.

An Maly werde ich recht bald schreiben - auch an Herrn Onkel in Chur [7].

Wie schön waren doch die Tage, welche wir in Vaduz zusammen zubrachten. Hoffentlich kommen so schöne Tage wieder: hier oder in Vaduz.

Gott segne Sie, theurer Vater und erhalte Sie froh und gesund, sowie die gute Mutter, die wohl in diesem Augenblick ihr Spinnrad in die Ecke stellt, um zu Bette zu gehen.

In inniger Liebe Ihre dankbare Tochter
Fanny.

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[1] Geburtstag des Vaters, Johann Peter Rheinberger , am 19. Oktober (1789).
[2] Die ersten Rheinbrücken in Liechtenstein entstanden 1867/68 (Bendern - Haag und Schaan - Buchs). Die letzte Rheinfähre verkehrte bis 1928 zwischen dem liechtensteinischen Ruggell nach dem schweizerischen Salez.
[3] Vgl. Fussnote 1 Josef G. Rheinberger schreibt an seinen Bruder David. Themen des Inhalts sind das Rheinhochwasser, wie sehr er Liechtenstein vermisst und das Stück die Sieben Raben. Fanny Rheinberger hat einen eigenen Brief angefügt, wo sie genauer über Rheinbergers momentane Forschritte beim Komponieren berichtet. 30.09.1868, in: Wanger/Irmen, Bd. 3, S. 3.
[4] Nr. 1-7 der "Zehn Trios für Orgel", op. 49, erschienen bei Rob. Forberg in Leipzig 1871.
[5] Vorabend des Geburtstages von Johann Peter Rheinberger, vgl. Fussnote 1.
[6] "Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schildertungen aus Chur-Rätien's Vorzeit." Von P(eter) Kaiser. Chur 1847.
[7] Jacob Anton Carigiet, von 1826 bis 1852 Pfarrer von Schaan, dann Domherr in Chur, wo er 1880 als Domdekan starb.