J.G. Rheinberger sorgfältig beschreibt seinem Bruder David seine Reise nach Berlin und Prag.


Brief an seinen Bruder David


München, d. 6/3 67
Mein lieber Bruder!

Die paar Zeilen, welche ich von Leipzig aus unmittelbar an den lieben Vater schrieb, werdet Ihr erhalten haben. Ich habe umsomehr Ursache mit dem Erfolge zufrieden zu sein, als derselbe von sämtlichen Musikern mit dem Publikum getheilt wurde. Sollten vielleicht hinterher ein paar Leipziger Kritiker schimpfen, so mache ich mir nichts daraus, - der unmittelbare Erfolg macht hier den Ausschlag. Sonntag früh fuhr ich nach Berlin, wo ich um 10 Uhr ankam, zwei Freunde (die dort jura studiren) aufsuchte und mich bis Sonntag Abend 8 Uhr fleissig herumtummelte, die Oper besuchte. Berlin ist wunderschön, grossstädtisch in Allem - in der ungeheuren Ausdehnung wie in den kleinsten praktischen Anordnungen, welche grössere Städte vor kleinern so sehr auszeichnen. Da ich zwei so gute Führer hatte und die Berliner Sehenswürdigkeiten auf den Stadttheil 'unter den Linden' und 'Schlossplatz' concentrirt sind, so habe ich für die kurze Zeit ungewöhnlich viel gesehen, sogar den König an seinem Arbeitstisch, dem man von dem Reiterstandbild des alten Fritz aus ganz in das Zimmer sieht. Bismarck sah ich leider nicht.

Sonntag Nachts fuhr ich nach Dresden; besuchte vor Allem die wundervolle Gallerie mit der Sixtina von Rafael, - die Brühl'sche Terasse und meinen alten Freund und Lehrer Leonhard [1], ass bei ihm Mittag und Abend und fuhr Nachts 1 Uhr nach Prag, wo ich um 7 Uhr früh ankam (halb erfroren) und besorgt zu erkranken. Doch Nachmittags erholte ich mich, ging 2 mal auf den herrlichen Hradschin, sah die Brücken, die Kirchen (Veitsdom, Teynkirche) die 12hundertjährige Synagoge (die älteste Europas, ein merkwürdiger, halbunterirdischer Bau), den weltberühmten Judenfriedhof. Die Judenstadt ist ihres Schmutzes und ihrer Scheusslichkeit wegen berühmt; mir wurde fast übel. -
Dann das Wallenstein-Palais...
Berlin ist (verhältnissmässig) billig; Leipzig, Dresden und Prag sehr theuer, in Prag isst man unvergleichlich gut - das haben die Böhmen los.
Abends entschloss ich mich wieder zu der Nachttour, von Prag nach München in 12 Stunden (1/2 10 A. bis 1/2 10 früh) trotz der Kälte zu fahren. Und heute früh (am 15. Tage meiner Abreise) bin ich glücklich angekommen; und zwar, da ich die letzten drei Nächte nicht zum Schlafen kam, und leichter um 135 fl 35 Kreuzer, aber unendlich bereichert an Erfahrungen.
Von Leipzig ein andermal ein weiteres.
Wie geht es in Vaduz? Sei so freundlich und schreibe mir bald, - ich schliesse und bin todtmüde, ich muss diesen Nachmittag schlafen.
Mit den herzlichsten Grüssen

Dein und Euer

Josef Rheinberger.

Apropos: den Leipziger Verlegern habe ich 5 Manuscripte zum Druck aufgehängt.

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[1] Leonhard = Emil Leonhard, einstiger Klavierlehrer Rh's