J.G. Rheinberger erzählt seinen Eltern von seinen neuen Pflichten, und versucht seinen Vaters Missbilligung zu unterdrücken.


Brief an die Eltern
Aschermittwoch [1. März] 1865, München

Mein theuerster Vater!

Wenn ich Ihnen nicht schon längst geschrieben habe, so war nicht so sehr Mangel an dazu nöthiger Zeit, als Mangel an ungestörter Musse schuld, indem meine Beschäftigung sich als eine sehr verschiedenartige gestaltet hat. Es ist darin ein Fortschritt zum Bessern in meinen Verhältnissen nicht zu verkennen, - weniger im Materiellen, als in der Art meiner Beschäftigung - brauche ich doch nur wenige Privatstunden mehr zu geben. Besonders wohlthätig ist für mich dadurch, dass ich meine Brust weniger anzustrengen brauche. Bisher war meine Stellung am Theater sehr angenehm, und - was Viel werth ist - sind sämtliche Leute, mit denen ich dort zu thun habe, sehr für mich eingenommen. Ich habe gewöhnlich von früh 10 - 12 oder 1 Uhr Theaterproben zu halten und etwa 1 oder 2 mal wöchentlich die Musik hinter der Scene Abends zu dirigiren - oft habe ich gleich mehrere Tage hintereinander frei, was gewiss auch angenehm ist. - Maly hat durch Lisi's Briefkanal erfahren, dass es Ihnen gerade nicht besonders lieb sei, dass ich zur Bühne gegangen. Ich kann mir keinen stichhaltigen Grund dafür denken. Sollten Sie vielleicht aus Gründen der Moral dagegen sein, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, dass nirgends ein anständigerer Ton herrscht, als gerade bei der Bühne und sich die Sache vom Parterre aus weit schlimmer ausnimmt als sie ist - und was die decolletirten Frauentoiletten anbetrifft, so ist es doch besser und ungefährlicher, wenn man an sie gewohnt ist als wenn nicht. Doch glaube ich Sie 'pfui' sagen zu hören, und damit genug.
Das Schauspiel von Calderon, zu dem ich die Musik geschrieben, wird bis Mitte Fastenzeit das Licht der Lampen erblicken - bis dann Näheres. -
Da Sie wünschten, dass Maly noch länger bei mir bleiben solle, habe ich diess zugestanden, wurde aber von meinem Hausherrn wieder um 15 Gulden gesteigert. Die Nahrung kommt mich jetzt mit dem nach der Höhe des Miethzinses berechneten Armengelde und Treppenputzenlassen auf 200 fl. In der Stadt selbst wäre keine anständige unter dem doppelten Betrag zu haben, so sehr wird Alles hier grossstädtisch. Im Verhältniss sind die Preise alles Übrigen, zum Leben Nothwendigen.
Soweit war der Brief schon vor 8 Tagen geschrieben und blieb bis heute (Aschermittwoch) liegen. Und da ich heute durch ein Unwohlsein (Zahngeschwür, welches mir der Doctor erst vor einer halben Stunde aufgeschnitten) ans Zimmer gefesselt bin, so bleibt mir Musse genug, den Brief zu vollenden. Meine Fastnachtsfreuden bestanden in einem geschwollenen Backen, der mir Tage und Nächte hindurch die grössten Schmerzen verursachte; doch wird mir hoffentlich oben erwähnte kleine Operation Ruhe verschaffen. Endlich haben also die Vaduzer einen Pfarrer - was lange währt, wird - - -.
Pfarrer v. Türkenfeld, Herr Wolfinger war erst vor wenigen Wochen hier; er war diesen Sommer (od. Herbst) krank gelegen - wo? - in Triest. Da er immer 'am ummakessla' und Geldsäcke todtschlagen ist, so will er diesen Sommer wieder einxnal in's Liechtenstein'sche 'einbrechen'. Mit der 'Encyclika' scheint er sich bisher verdammt wenig befasst zu haben. -
Heuer war ein strenger Winter, der mich schon viel Geld (für Holz) gekostet hat.
Am Conservatorium haben wir noch immer das Provisorium; was daraus werden soll, wissen die Götter.
Anschliessend noch eine verspätete Recension. Wenn Sie dergleichen erfreut, so können Sie einen grössern Aufsatz in der Leipziger ailgem. Musik-Zeitung, in No 2 und No 6 d. Jahrganges finden; besagte Nummern werden wohl einzeln durch die Buchhandlung zu beziehen sein.

Hoffentlich befinden Sie sich, Theuerster Vater! wie alle lieben Angehörigen, in bestem Wohlsein. Mein nächster Brief (nach Aufführung des erwähnten Schauspiels) soll dem ehrwürdigen David gelten. Wenn Meister Anton nach vollbrachtem Tagewerk von seinem Malepartus heruntersteigt, bitte ich ihn zu grüssen, wie alle Übrigen.
Und nun Gottbefohlen!
Ihr dankbarer Sohn
G. J. Rheinberger.
München Aschermittwoch [1. März] 1865.

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