Brief an die Eltern
München, 1.7.53
Theuerste Eltern!
Ihren werthen Brief mit dem Gelde erhielt ich am 19. v. M., und es freute mich ungemein zu vernehmen, dass Sie sich recht wohl und zufrieden befinden. -
Heute früh sagte Hr. Direktor zu mir, es würde ihn sehr freuen, wenn ich das nächste Jahr wieder käme. Er hätte mir schon lange eine Freistelle 'in Anbetracht meines Fleisses und guten Betragens' verschafft, wenn ich kein Ausländer wäre. Heute noch wolle er mit dem Minister v. Zwehl darüber sprechen und es dann Ihnen schreiben.
Jener Professor der Universität (Dr. Schafhäutl) hat mich öfters eingeladen, bei ihm zu essen, mit ihm an Feiertagen auf das Land zu fahren, was ich natürlich immer annehme; dann nimmt er öfters Partituren, Messen usw. mit mir durch, und nachdem er mich nach seinem Ausspruche genug gepeinigt hat, nimmt er mich immer in die Oper mit (Faust, Entführung, Vestalin, Iphigenia). Er ist ferner schon 3 mal in Vaduz gewesen, benannte alle Dörfer und Alpen und konnte sich erinnern, Briefe gelesen zu haben, welche Sie Hr. Director geschrieben. - Bei Tisch war auch ein General Salis-Solio, gewesener Anführer der Sonderbündler [1]. Dieser sagte, er sei vor einigen Jahren mit Ihnen im Bade St. Moritz gewesen. Er lobte die Liechtensteinische Armee ungemein und habe deren IIten Befehlshaber Rheinberger in Bregenz beim Fürsten Schwarzenberg gesehen.
Hr. Schafhäutl will mir auf's nächste Jahr den Unterricht des Generalmusikdirektor Lachner [2] (!!) verschaffen. Er zeigte mir die Hof- und Universitätsbibliothek und gab mir daraus theoretische Werke zum Durchstudiren. -
Hr. Prof. Herzog habe ich eine Orgelfuge komponirt und gewidmet, woran ich 14 Tage gearbeitet habe. - Ich denke, die Heimreise werde 15 - 16 fl kosten, ohne die verschiedenen kleinen Ausgaben, welche ich bis dahin haben werde. Was soll ich mit dem Koffer anfangen? Ich bitte, mir recht bald zu schreiben. Hr. Pf. Wolfinger ist schon seit Anfang März nicht mehr in München gewesen. -
Ich weiss wohl, das es für meine Ausbildung gut wäre, wenn ich noch ein Jahr hierher käme, weiss aber auch, was es kostet. Ich habe schon so viel nachgedacht und studirt, weiss aber nichts zu finden, denn hiesige Studenten geben Unterricht zu 6 +er per Stunde! Gott jedoch wird weiter helfen, hat er ja bis jetzt auch geholfen. Ich meinentheils werde wie bisher trachten, fleissig und brav zu bleiben - denn nur dadurch ist es mir möglich, Ihnen Bester Vater! meine Dankbarkeit für ihre väterliche Liebe einigermassen an den Tag zu legen - gebe Gott seinen Segen dazu.
Ihr dankbarster Sohn
Joseph Rheinberger
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[1] Sonderbündler = Der "Sonderbund" war ein Zusammenschluss der katholischen Kantone der Schweiz. Im sog. Sonderbundskrieg vom 4. - 23. November 1847 zerschlugen die unter dem Kommando von General Guillaume-Henri Dufour stehenden Truppen der übrigen Kantone die katholische Allianz.
[2] Generalmusikdirektor Lachner = Franz Lachner (1803-1890), Komponist, Schüler von K.Ett. Er war 1822-1834 Organist in Wien, wo er mit Franz Schubert befreundet wurde. Bis 1836 wirkte er als Kapellmeister in Mannheim, dann war er Hofkapellmeister und Generalmusikdirektor in München, bis er sich 1868 pensionieren liess.