Josef G. Rheinberger erzählt seiner Schwester, dass die Ferien vorüber sind, der Alltag wieder begonnen hat und den abendlichen Besuchen des Oktoberfestes.


Brief Josef G. Rheinberger an seine Schwester Elisabeth
12. und 20. Oktober 1858, München


Liebes Lisi!
Da wir verabredet haben, einander hie und da zu schreiben, Du aber allen Anschein nach zu faul bist, den Anfang zu machen, so bin ich genöthigt, unsere beabsichtigte Correspondenz zu beginnen. Zur Strafe dafür (für diese Deine Nachlässigkeit) schreibe ich Dir einen so langweiligen Brief, dass Dir auf der 2ten Seite gewiss schon schlecht, oder wenigstens "blöd" geworden sein wird. Ich habe zwei wichtige Gründe, Dir heute zu schreiben.
I. Weiss ich nichts, und
II Weiss ich erst recht gar nichts.
Diese zwei Gründe mit der nämlichen Zahl multiplicirt, gibt viermal Nichts, und das ist gewiss genug. Ich halte mich demnach für entschuldigt, wenn ich nichts zu schreiben habe. Nun handelt es sich davon, ob Du mir nichts zu schreiben habest - auch dafür sprechen zwei Gründe.
I. Weisst Du Etwas, und
II.Weisst Du ganz gewiss Etwas.
Ich aber bin genügsam - daher auch zufrieden, wenn nur das Zweite der Fall ist: Das heisst: Notabene, wenn Du mir nur ganz gewisst Etwas Neues schreibst. (Umblättern!)
(Ganz gewiss hast Du jetzt umgeblättert!)
Ist Dir noch nicht schlecht oder "blöd"? Hä?
Ich habe mit meinen Schülern wieder zu schulmeistern angefangen, und habe wieder viel zu thun, nachdem ich in den ersten 8 Tagen in München gefaulenzt habe, um den September nach vaduzerisch zu beschliessen. Im Übrigen bin ich wieder froh, hier zu sein. Vom 1-bis 11ten October war herrlich warmes Sommerwetter, desswegen ging ich fast täglich Abends auf die Oktoberfestwiese, um mir das dortige Volksleben anzusehen, und noch einige Male im Freien die Masskrügeln zu küssen. Da dies hier so im Gebrauch ist, muss man halt auch mitmachen. Im Glückshafen hab' ich heuer nichts gewonnen - was mir sehr leid that.
Mein Chorregent in der Theatinerhofkirche war sehr froh, als ich wieder kam, denn der mich stellvertretende Aeugle habe gar nichts können, so ungefähr wie Hr. Hinger [1] in Vaduz. Beschreibe mir doch, Liebe Schwester! in Deinem nächsten Briefe die Feierlichkeiten bei Bürgermeister Marxer's [2] Hochzeit. Du kannst ihm sagen, dass ich ihm herzlich gratuliren lasse. Wie geht es der lieben Mutter? Ich lasse sie herzlich grüssen.
Singst Du noch hie und da mit dem Matscherle meine heurigen Lieder? Oder habt Ihr sie schon vergessen?

Genug für heute! (München den 12.Okt.58.)

Seitdem ich voriges geschrieben, hat mich der Peter mit einem Briefchen erfreut; da dasselbe vom Schloss Hohenliechtenstein datirt ist, so schliesse ich, dass unter seinem Commando die Militair-Manoevres der fürstlich Liechtensteinischen Truppen (behufs der Bundesinspection) aufgeführt wurden. Ist er noch in Vaduz?
Dass Toni so lange mit einem Briefe zurückhalten würde, hätte ich nicht gedacht. Das Wetter im October ist hier so mild, dass ich heute am 20ten noch Abends 1/2 11 Uhr bei offenem Fenster schreibe. Wahrscheinlich geht gerade in Vaduz der "Pföhän" [3]; (dieses Wort wird gerade so ausgesprochen, wie der Pfarrer schneuzt.) -
Der Oratorienverein hat nun auch wieder angefangen, - Überhaupts habe ich viel zu thun. - Schreibe nur bald, unterdessen verbleibe ich mit 1000000 Grüssen Dein Dich liebender Bruder

G.J. Rheinberger.

20. 10. 58.

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[1] Hr. Hinger = Anton Hinger, Lehrer an der Volksschule in Vaduz. H. schrieb eine kurze Biographie
[2] Bürgermeister Marxer = Johann Georg Marxer, 1857-1864 Richter von Vaduz (ab 1861 offiziell mit dem Titel "Bürgermeister") Rheinbergers (Anton Hinger - Josef Rheinberger. Eine kurze Biographie. Mit Porträt. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Dritter Band, Vaduz 1903. S. 166ff.)
[3] "Pföhän"=Föhn