Brief Josef G. Rheinberger an seinen Vater
30. Oktober 1857, München
Theuerster Vater!
Weil ich heute vor einem Jahr von Vaduz wegging, um mich wieder nach München zu begeben, desshalb will ich heute diesen Brief hier schreiben, damit er auch auf Allerheiligen eintrifft.
Für die Besorgung meines Reisepasses sage ich Ihnen, bester Vater! meinen Dank.
Die Nachricht, dass wir nun "hämini" sind, hat mich schmerzlich berührt. Ich glaubte, gar nicht zu Hause zu sein, wenn ich in Vaduz in einem andern Hause wohnen müsste; da ginge es mir wie der l/ieben/ Mutter, welche sich auch nicht darein schicken kann. - In welchem Zimmer steht nun das Clavier, wo wohnt der Toni? etc:
Mir geht es ganz gut. Ich bin, Gottlob, immer kerngesund, habe aber viele Stunden zu geben. Zurn componiren habe ich keine andere ruhige Zeit mehr als Abends von 7 - 12 Uhr; und gerade in dieser Woche hätte ich noch viel zu schreiben. In der letzten Ausschuss-Sitzung des Oratorienverein wurde einstimmig beschlossen, mein Oratorium "Jephtas Opfer" aufzuführen, obschon keines der Mitglieder dasselbe noch kennt, nicht einmal Hr. von Perfall. Mit der Umarbeitung des Oratoriums bin ich auch noch nicht fertig; mit dem Schreiben der Sinfoniestimmen ebenfalls nicht und dazu habe ich durch die ganze Allerseelenoctave täglich zweimal Orgel zu spielen, und dann noch meine vielen Stunden zu geben; da weiss ich gar nicht, wo die Zeit dazu hernehmen.
Der junge Briem war schon lange nicht mehr bei mir, desshalb weiss ich nicht, wie es ihm geht, ich will ihn aber nicht aufsuchen.
Peter hat mir vor 8 Tagen geschrieben, und ich ihm am nämlichen Tage geantwortet.
Ich komme nun die ganze Zeit keinen Schritt mehr über den Burgfrieden der Stadt hinaus, weil ich auch Sonntag Nachmittags von 2 - 3 Uhr Stund geben muss.
Ist das Mali nun auch wieder ganz gesund? Ich hätte ihm schon längst Musikalien geschickt, aber ich muss mein Geld zusammenhalten. Jedoch aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Wenn ich Zeit zum schreiben gehabt hätte, würde ich dem Toni einige Zeilen beigelegt haben.
Hat es heuer viel "Törka und Wi [1]?" Indem ich alle Lieben, besonders aber Sle beste Eltern! herzlichst grüsse, verbleibe ich Ihr dankbarster Sohn
Jos. Rheinberger
Hof-Organist
mit 60fl Gehalt.
München, den vorletzten Oktober 1857.
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[1] "Törka und Wi" = Türken (=rheintaler Mais) und Wein S.283/Z.21: Kunt hür der Samikios = Kommt heuer der St. Nikolaus? S.284/Z.20: Hätt er öppa d'Strucha... = Hat er etwa den Schnupfen, dass ich nichts von ihm höre?