Fanny von Hoffnaaβ: "Aus der Heimath"; Biographische Aufzeichnung zur Jugend Josef Rheinbergers


Fanny von Rheinberger-Hoffnaaβ: "Aus der Heimath"; Fragment mit Aufzeichnungen und Notizen zu den Jugendjahren von Josef G. Rheinberger
Frühjahr 1876, o.O.


Das Jahr 48 brachte viel äussere Unruhe und Änderung in die stillen Verhältnisse. Einen eigentlichen Pianisten hatte Joseph bis dahin noch nicht gehört. Einmal stand ein grosser Genuss bevor, indem plötzlich vom Adlerwirt [1] eine Botschaft kam, der berühmte Franz Liszt sei plötzlich in Vaduz angekommen und wolle ein Konzert geben; vorausgesetzt, dass ein Clavier aufzutreiben sei. Da man wusste, dass der Rentmeister ein gutes Clavier habe, so seien gleich Träger gekommen, es zum Adlerwirt zu tragen. Bei dieser Botschaft glühten die Wangen des Kindes und aufspringend wollte Joseph sogleich behilflich sein, das Instrument zu holen, aber der strenge Vater war andrer Meinung: "Marsch in's Bett", hiess es, nachdem Joseph gebeten und fortgeweint, weil er des Vaters Unlust sah, dem heissen Wunsche "den Liszt" zu hören und ihm sein Clavier zu leihen, nachzugeben.
Der Knabe kroch ins Bett und das Clavier blieb in der Stube. Anderntags hörte man, dass der "falsche Liszt" (der echte war weiss der Himmel wo) durchgebrannt sei, ohne seine Zeche bezahlt zu haben, nachdem das vom Pfarrer geliehene Clavier zu Scherben getrommelt worden. Das war für den klugen Vater ein Triumph, für den Sohn ein Trost.
Bald darauf kam aber eine andere Gelegenheit, Musik zu hören, welche diesmal tiefere Folgen für die Zukunft Josephs hatten.
Es war am Cäcilientag [2] 1848, als eine kleine Gesellschaft von Herren aus Feldkirch zu einem Ausflug nach Vaduz kam, sich im Saal des Adlerwirts niederliess und ein Streichquartett spielten. Die erste Violine spielte ein Cameralgerichtsrath Schrammel, ein österreichischer Beamter Mitte der 30er Jahre, der Cellist war Chorregent Schmutzer von Feldkirch und die Mittelstimmen 2 österreichische Beamte in Feldkirch.
Als Joseph hörte, dass Musiker aus Feldkirch angekommen seien, lief er mit Erlaubnis des Vaters hin, stellte sich neben die erste Geige und bat, umwenden zu dürfen. Als er nach einiger Zeit mit grosser Bestimmtheit behauptete, dass die erste Geige um einen 1/4 Ton tiefer stimme als sein Clavier daheim, wurde er zuerst ausgelacht oder zur Ruhe verwiesen; dann aber bat der Knabe so dringend, der Herr möge sich selbst davon überzeugen und mit ihm nach Hause gehen, dass sich dieses feine Gehör zum Staunen des Violinspielers als ganz richtig erwies; denn die Violine stimmte in Wahrheit um 1/4 Ton tiefer. Voll Freude über diesen Beweis fing nun der Knabe vor dem Herrn zu spielen an und nicht nur seine Technik, mehr noch sein musikalischer Ausdruck überraschten Herrn Schrammel so sehr, dass er dem Vater ernste Vorstellungen über die Verantwortung machte, ein solches Talent nicht zur rechten Zeit ausbilden zu lassen, und er bot sich an, den Knaben zu sich nach Feldkirch zu nehmen, wo seine Mutter, bei welcher der noch ledige Beamte mit einer kleinen Nichte wohnte, gewissenhaft für sein leibliches Wohl sorgen werde, während dem kleinen Musiker die Gelegenheit zu tüchtiger Ausbildung nicht fehlen werde. -
Dem Vater leuchtete dieser Vorschlag ein; doch -musste noch Verschiedenes wohl überlegt werden: vor allem, dass sein Sohn bereits eine kleine Anstellung als Organist im Kirchlein St. Florin hatte. Es wäre nehmlich ein sehr tüchtiger Lehrer, Namens Falk, in Vaduz nicht angestellt worden, da er die Bedingung, den kirchlichen Organistendienst zu versehen, nicht erfüllen konnte, wenn nicht der "kleine Organist" als dessen Stellvertreter die Dienste übernommen hätte. Ging nun Joseph nach Feldkirch, so war auch Lehrer Falk gezwungen, abzugehen oder einen eigenen Organisten zu suchen...
Nach einiger Berathung meinte aber das lernbegierige, thatendurstige Büblein: ich komme halt alle Samstag von Feldkirch herüber, mach meinen Dienst und geh Sonntag Nachmittag wieder zurück. Das wäre nun heutzutage, wo die Eisenbahn eine halbe Stunde nahe bei Vaduz (Schaan oder Sevelen) landet, nichts so besonderes gewesen: damals aber betrug die Entfernung 3 1/2 Stunden! Keine Kleinigkeit für den Knaben - bei Wind und Wetter - bei Sturm und Schnee! Aber die Liebe zum Lernen, vielleicht auch die Freude, jede Woche sicher ins liebe Elternhaus zu den Geschwistern zu kommen, überwand alle Bedenken, und das Mütterlein machte sich still (betend und wohl auch seufzend) daran, Wäsche und Kleider ihres Lieblings in Ordnung zu bringen und ihn reisefertig herzurichten. Am schmerzlichsten empfand wohl der kranke Bruder Anton die Lücke, welche durch den Wegzug Josephs für ihn entstand; doch hatte darum seine Mithilfe als Notenkopist - oder wenigstens als "Heftbinder" noch kein Ende.

Eine Schwester hatte einen religiös heroischen Sinn, und von klein auf eine grosse Neigung zum "Opfer aus Liebe zu Christus". Dies zeigte sich, als einmal ein Bergsteiger verunglückte und, da seine Leiche nicht zu Thal gebracht werden konnte, in einer Berghütte untergebracht wurde. Der Gedanke, dass der Mann da oben so verlassen läge, dass niemand für seine Seele bete, bewog die junge Heldin auf den Berg zu steigen, ein geweihtes Licht neben sein Lager zu stellen und die ganze Nacht wachend und betend bei der Leiche zu verweilen.

Dass eine solche Gottes- und Nächstenliebe sich in grösseren Opfern Bahn brechen würde, liess sich denken; auch wurde sie später "barmherzige Schwester" in Tyrol, und sie ist die einzige, welche alle andern Schwestern Josephs überlebt hat. Gegenwärtig wirkt sie als Sekretärin der Oberin von St. Josefsburg in Zams bei Landeck, wo sie nicht nur Kranke, sondern auch Kinder zu pflegen und zu unterrichten haben. Die Geschwister sind sich allerdings fremd geworden: sie haben sich (Joseph und seine Schwester), seit beide erwachsen sind, nur zweimal gesehen und sich das erste Mal nicht wieder erkannt. Sie hat, dadurch dass sie so wachsam war und am Vorabend des Herz-Jesufestes die Capelle schmückte eine Brandstiftung entdeckt, welche zwar das alte Closter für immer zerstörte, aber doch dass die schlafenden Kinder nicht ins Verderben stürzen konnten, denn auf die Hilferufe der Schwester Maxentia. wurden die armen Kleinen noch rechtzeitig aus den Betten gerissen.
David war damals als Prädicant daheim. Seine geistige Begabung und seine Belesenheit, wie auch sein angeborenes Talent zum Historiker hätten ihm einen bedeutenden Wirkungskreis eröffnen können; doch liebte er seine Heimath und half auch dem Vater.

Peter befand sich im Jahre 1849 als Bundesmilitärmann im badischen Feldzug und half, den Insurgenten die Köpfe zurechtzusetzen. Er hatte viel technisches Talent, war aber ziemlich barsch in seiner Jugend und hatte gerade für die "träumerische" Seite seines Bruders Joseph nicht viel Verständnis.

Elisabeth war damals auch zu Hause, ein liebes, zartfarbiges Mädchen, sehr geschickt für feine Handarbeit und für die Pflege der Blumen.

Josepha, eine Stiefschwester, war lungenleidend und die Qual der Entwicklung dieses Leidens war dem Bruder Joseph namentlich in späteren Jahren eine unsägliche Pein.

Amalie, im Jahre 1842 geboren, also nur 3 Jahre jünger als Joseph, sollte ihm im ferneren Leben - und als er einige Zeit in München selbständig lebte, am nächsten stehen.

Nun kam der Tag des "Auszugs" nach Feldkirch. Ausgerüstet mit seinen Clavierstudien und einigen Compositionen, bestehend in Messen und andern Übungen, gut versorgt mit liebevollen Lehren seitens der guten fürsorglichen Mutter - namentlich was das brave Kirchengehen etc. betraf - ward das Wäglein bestiegen, welches den hoffnungsvollen Knaben zum ersten Schritt in die Welt führte. Der Cameralrath Schrammel nahm den Knaben in ganze Pension, aber er hatte schon auch sein besonderes musikalisches Interesse für seine eigene Person daran, denn allabendlich nahm er seine Violine aus dem Kasten, legte eine Violinstimme und irgend eine Orchesterbassstimme oder auch keine Begleitstimme auf das Klavierpult, und während er mit seiner Ceige die Melodie und übrige Geigenstimme fiedelte, musste Joseph die richtige Begleitung ohne Stottern und Besinnen dazu auf dem Clavier finden. Durch diese Übung der musikalischen Geistesgegenwart und Erfindung ward seine Auffassung so geschärft, dass er schliesslich mit grosser Leichtigkeit das Accompagnement erfand und durchführte. Das war die Abenderholung. Unter Tags wurde täglich eine Harmoniestunde bei dem am Prager Conservatorium ausgebildeten Chordirektor Schmutzer von Feldkirch genommen.
Im Orgelspiel hatte Joseph in Feldkirch keinen Lehrer mehr; doch spielte er öfters in der Pfarrkirche von Feldkirch, obgleich die Füsse des Organisten nicht recht gewachsen waren.

Das Clavierspiel durfte auch nicht vernachlässigt werden und so war mit Einschluss der täglichen Harmoniestunden und Aufgaben, wie auch der Clavierstudien der Tag nie zu lang für Joseph - wohl aber litt er oft an Heimweh und versäumte deshalb auch nie seinen Sonntagskirchendienst in Vaduz.
Am meisten interessierten ihn in Feldkirch die Häuser, wo er ein gutes Clavier vermutete. Da ging er dann ganz offenherzig hin und frug - wenn ihm die Familie auch sonst nicht bekannt war - ob es erlaubt sei, auf ihrem Flügel zu spielen. Da verrannen ihm dann die Stunden gar schnell - zumal er den Schatz der Weber'schen Clavierstücke und Sonaten zu heben begonnen. Der kleine Spieler konnte sich da kaum losreissen und raffte erst in letzter Frist seine Noten zusammen, wobei es ihm öfters vorkam, dass er später schüchtern zurückkehrte, um seine Mütze oder Hütlein zu holen; denn in Vaduz belästigte er sein Haupt selten mit einem Schutzdeckel.

Einmal erschien ein fremder Virtuose Vincenz Adler, welcher aus Pest kommend auf Umwegen nach Paris gehend (ohne sich irgendwie in der Zeit zu drängen) in Feldkirch ein Concert gab und namentlich dadurch den kleinen Musikus verblüffte, dass er schwere Virtuosenstücke mit der linken Hand allein vortrug.
Eine Zeit lang spielte dann Joseph nicht mehr anders, als die rechte Hand in die linke Brusttasche geborgen, mit der Linken frei und wild phantasierend und Riesenaccorde harpegirend. Vincenz Adler lernte den Knaben sofort lieben, begab sich zu dessen Vater nach Vaduz und bot ihm an, seinen überaus begabten Jungen mit nach Paris zu nehmen, -um ihn auf seine Kosten vollständig als Virtuose I. Ranges auszubilden. Aber der kluge Vater, der sich schon damals das Clavier nicht vom "falschen Liszt" zusammenschlagen liess, vertraute um so weniger sein kostbares Kind dem fremden, wandernden Pianisten an, so dringend dieser auch gebeten, und so ehrlich er es gemeint hatte.
Joseph blieb zu gründlichen Studien in Feldkirch.
Nahe der Wohnung H. Schrammels hauste ein pensionierter Gymnasiallehrer, welcher in einer Truhe auf dem Speicher musikalische Schätze verwahrte. Dieser etwas mürrische alte Herr rühmte sich, dass er in seiner Jugend den berühmten Mozart gekannt und gesprochen. Herr Moritz hatte nämlich eine gewaltige Bassstimme, zu deren Ausbildung ihm die Freunde rieten - und zwar könne er vielleicht bei Capellmeister Mozart in Wien, wenn auch nicht Unterricht, so doch einen ehrlichen Rat erhalten.
"Ich ging also hin", erzählte Herr Moritz, "sang ihm mit voller Stimme aus voller Brust vor, und glaubte, dem Capellmeister sehr zu imponieren. Dieser hielt sich zwar ein paar Mal die Ohren zu, sagte aber dann sehr höflich indem er vom Clavier auf stand zu mir: 'Mein lieber Herr von Moritz, nehmens mir's halt net übel, aber schauen's anen Ochsen kann ich's singen net lernen".

Trotzdem das Compliment für das Gebrüll kein erfreuliches war, so blieb Herr Moritz doch immer stolz darauf, dass er noch zu den wenigen Lebenden zählte, mit welchen Mozart gesprochen - die er eigenhändig zum Gesang begleitet.

Mit kluger Mässigung gab Herr Moritz, nachdem er des kleinen Rheinbergers grosses Interesse an seiner Musiktruhe erkannt, ihm immer nur ein Heft Bach und versprach erst dann den Austausch des Heftes, wenn Joseph das geliehene studirt hatte, dass er es ihm auswendig vorspielen konnte. Und da der Ehrgeiz des Knaben - nein, das musikalische Ehrgefühl des trefflich erzogenen Kindes die Würdigung solcher Güte ohne besondere Mahnung verstand und empfand, so quoll jetzt "Bach" wie ein Strom in die Brust und aus den Fingern des eifrigen Studenten.

Zurückschauend auf Rheinbergers Kindheit, muss es dem denkenden Beobachter auffallen, wie grossen Einfluss nicht nur Künstler, als auch Kunstliebhaber auf die frühe Ausbildung des Knaben hatten. Durch solch einen "Dilettanten" lernte er Mozart, wenn auch in flötenhafter Zubereitung - so doch in seiner geistigen Tiefe kennen. Ein anderer Dilettant veranlasste den Vater, seinen Knaben ganz für Musik ausbilden zu lassen. Der dritte Dilettant endlich vermittelte ihm die genaue Kenntnis von Bach.
Dazu kam noch das Leben an kleinen Orten, wo allerdings wenig oder keine Gelegenheit geboten war für Theater oder Concert, wo aber die Erholung in schöner Natur, der unbewusste Einfluss segenreicher Stätten (wie die Schattenburg bei Feldkirch etc.) der poetisch musikalischen Empfindung sehr förderlich sein musste, ihr wenigstens das Erdreich für kommende Saat und Frucht trefflich vorbereitete.
Dazu kam die Treue in Erfüllung seiner Organistenpflicht in Vaduz und auf dieser Wanderung bei wechselndem Wetter - die wechselnde Stimmung in Natur und Gemüth. Manchmal zog er träumend seinen Weg, dessen Abkürzungen er nun "wie blind" fand - manchmal pressierte es seinem Herzen nach Hause zu kommen, so dass er durch Wiesen und Wald, über Bäche und Gräben sprang … immer war's eine Wonne, das Thürmchen von St. Florin wieder zu sehen, den kleinen Ton der geliebten Glocke wieder zu hören:

[Notenbeispiel]

O süs-se Hei-math, wie so schön

liess er später, später seine Elsbeth (die treue Schwester der sieben Raben) singen - und damals mag es schon so in seiner Seele geklungen haben. Niemand verstand ihn ganz - und manchmal scheint es mir, als wäre das - vielleicht -mit einer einzigen Ausnahme - auch heute (13. November 1891) noch nicht viel anders.
Eines Tages wollte Herr Schrammel eine Landpartie machen und zwar in das über Rankweil gelegene Uebersaxen [3]. Seine Mutter blieb zwar zu Hause, aber die Nichte und Joseph nahmen freudigen Antheil an der lang besprochenen Partie. Die schöne Lage dieses hochgelegenen Dorfes und der herrliche Ausblick in das Rheinthal gewährte der kleinen Gesellschaft grossen Genuss; aber leider zogen Wolken herauf und Herr Schrammel konnte sich nicht entschliessen, den Heimweg anzutreten, wollte vielmehr in Uebersaxen übernachten. Dagegen protestierte der Pflegling, welcher um keinen Preis des andern Morgens 8 Uhr die Harmoniestunde in Feldkirch versäumen wollte. Gleichzeitig mit Schrammel war auch eine andere Gesellschaft angekommen, welche jedoch ebenfalls vorzog die Nacht unter sicherem Obdach zuzubringen, und dem drohenden Wetter nicht die Stirne zu bieten. Sie hatten einen Führer mitgebracht, anscheinend ein Jagdgehilfe, dem sie mehr als nötig war, Wein aufsetzen liessen, der aber noch Abends zurück musste und es übernahm, den Knaben heimzubringen.Die Beiden gingen flott; der Jäger hatte eine Flinte über der Schulter und sein wankender Gang, sein unvorsichtiges Stolpern ohne Rücksicht auf die Flinte waren Joseph nicht vertrauenerregend, auch kam es ihm vor, als verlören sie in einbrechender Dunkelheit den Pfad, auch ging es aufwärts statt abwärts und der Wald wurde immer dichter. Joseph sprach seine Vermuthung aus, dass dies nicht der rechte Weg sei. Aber der Jägerbursche gab fluchende Antwort und lallte wie ein Trunkener. Da fiel er hin und die Flinte kollerte vor ihm her: Halt! ein Auerhahn! rief er, fasste die Flinte und schoss. Wieder raffte er sich auf, die Dunkelheit des Waldes nahm aber zu - als plötzlich der Mond durch eine Lichtung brach und der Jäger stehen bleibend, seinen "Schützling" scharf in's Auge fasste und frug, ob er ein Sohn des Herrn Schrammel sei? "Nein". "Von wem denn?" "Ich bin aus Vaduz", sagte Joseph. "Aus Vaduz?!" schrie der Jäger "und wie heisst du?" "Rheinberger" - "So!" brüllte der Jäger, "vielleicht vom Rentmeister?" Und hier folgten Flüche und Schimpfreden auf diesen, dass dem Sohn das Blut in den Adern stockte. Entsetzt sah er in das zornentbrannte Gesicht des Jägers - und wie von wunderbarer Hilfe durchzuckt, glaubte der Knabe zu erkennen, dieses Gesicht sei ordentlich mit dem eines Gärtners, welchen sein Vater vor ein paar Jahren, des Diebstahls überwiesen, habe einsperren lassen: ein Fall, der wegen seiner Seltenheit in Vaduz umso mehr Aufsehen gemacht, als dieser unheimliche Mensch als äusserst rachsüchtig galt. Wie ein Blitz durchfuhr den Knaben diese Erinnerung - und, ehe er sich recht besann, antwortete er auf die Frage: vielleicht der Sohn vom Rentmeister? "Nein! vom Löwenwirt Rheinberger!"

Der Jäger aber fuhr fort zu fluchen und auf den Rentmeister zu schmähen und dem Knaben klopfte das Herz stärker und banger. Jetzt war der Wald zu Ende und drunten - in stillem Mondesglanz lag eine Mühle - hinter dieser zog die Landstrasse von Altenstadt [4] nach Feldkirch. Nur einen Augenblick besann sich Joseph - dann rannte er mit Windeseile bergab der Mühle zu - der Jäger nach - da fiel ein Schuss - der zweite aus der Doppelflinte - die Angst leiht Flügel - plötzlich sah der fliehende Knabe den wassergefüllten Mühlgraben vor sich - des Jägers Stimme nahte - keuchend, fluchend - ein Riesensprung und der Joseph lag mit der Stirne gegen das drübere Ufer gedrückt. Alles war still, tief still, da raffte er sich auf, erreichte die Landstrasse und sah - zu seiner nicht geringen Erleichterung in kleiner Entfernung vor sich einen Fuhrwagen ziehen. Er hielt sich in dessen Nähe (ohne jedoch den Fuhrmann anzureden) und dachte: kommt mir der Jäger nach, so bitte ich den Knecht um seinen Schutz, sonst aber nicht. Aber dem Verfolger war, wie es scheint, der Athem ausgegangen und Joseph konnte sich allmählich von seinem Schrecken erholen. Als er endlich Feldkirch erreichte und am Haus des Schrammel anläutete, und Herrn Schrammel's Mutter erschrocken öffnete, war es 2 Uhr Morgens! Aber um 8 Uhr sass der eifrige Studiosus, als ob nichts geschehen wäre, in seiner Harmoniestunde.

Die Familie Schrammel bewohnte das sogenannte Lausche Haus nicht sehr weit von der Johannespfarrkirche. Einige Zeit waren die unteren Stockwerke unbewohnt und nur die dritte Etage von Josephs Hausleuten eingenommen. Nach einiger Zeit zog ein einzelner, -mürrischer alter Pensionist ein, Namens Reiner, der nie mit Jemandem sprach, nur eine Zugängerin hatte, die seine kleine Häuslichkeit in Ordnung hielt und das Frühstück besorgte. Im übrigen war der alte Herr die Pünktlichkeit selbst. Gar manchen Abend, wenn es 10 Uhr schlug und Joseph noch wach lag, hörte er am Hausthor den Schlüssel einsetzen - dann die schlürfenden Schritte des Sonderlings durch den langen Gang zur Treppe gehen; hörte den stöhnenden Atem des Alten und zählte unwillkürlich die einzelnen Stufen, von denen die siebente einen ächzenden Thon unter der Sohle des Alten gab.

An einem schönen Sommerabend kam der kleine Organist ausnahmsweise schon am Sonntag von Vaduz herüber (während er sonst bis Montag Morgen blieb). Als er an das Schrammel'sche Haus kam, fand er die Thür verschlossen. Alle hatten einen Sonntagsausflug gemacht, und da war es unwahrscheinlich, dass sie bald zurückkämen. Dennoch wartete Joseph vor dem Hause und als es abends 10 Uhr war, erschien der sonderbare, schweigsame Junggeselle und war erstaunt, den Knaben vor der Thür auf der Strasse zu finden. Nach kurzer Erklärung lud er ihn ein, bei ihm zu übernachten - richtete ihm schweigsam ein Lager auf dem Sofa zu recht - gab ihm sogar andern Morgens ein Frühstück und entliess ihn dann. Bald darauf reiste der Schweigsame nach Carlsbad ab.

Es mochten acht Tage vergangen sein und wieder lag Joseph wach in seinem Bette. Da hörte er unten am Thor den Schlüssel einsetzen, hörte des Schweigsamen schleifenden Gang, zählte in Gedanken die Stufen - richtig! die siebente ächzte und nun war wieder alles still. Beim Frühstücke sagte Joseph zu Herrn Schrammel:
"Herr Reiner ist heute Nacht wieder gekommen!" Man war erstaunt, frug die Zugängerin; diese wusste nichts, auch blieb seine Wohnthüre verschlossen. Nach zwei Tagen kam die Nachricht aus Carlsbad, Herr Reiner sei vor zwei Abenden um 10 Uhr plötzlich verschieden. Es machte dem Knaben einen eigenthümlichen Eindruck; denn dass er ganz genau den Schritt und das Heimkommen des sonderbaren Herrn gehört, dessen war er sicher.
Es war eine "Meldung des Sterbenden".

Das musikalische Feldkirch interessirte sich für den kleinen Komponisten und Virtuosen. Einigemale durfte er als Pianist in Concerten auftreten und einmal componirte er für den Männergesangverein, welchen ein Geistlicher dirigirte, einen Chor, welcher auch zur Aufführung kam. Die Sänger zogen sogar einmal nach Schloss Vaduz [5], sangen dort oben den Chor und brachten dem kleinen Componisten ein Hoch aus, für welches dessen Vater in einer kleinen Rede den Dank sprach. -
Diese naive Kundgebung war vermuthlich nicht so geräuschvoll wie der Applaus für die Clavierleistungen eines modernen Claviertechnikers, aber angesichts der damaligen Verhältnisse und der abgeschiedenen Vaduzer Welt und Natur doch ein Ereignis, von welchem man einige Zeit sprach.
So endete - nach etwa 5/4 Jahren die musikalische Lehrzeit in Feldkirch und nun wurden bei Hofkaplan Fetz die Studien von Geschichte und Geographie, französisch und lateinisch mit erneutem Eifer aufgenommen und fortgesetzt. Noch fand ich ein diesbezügliches Schulzeugnis:

"Vorweiser dieses, Joseph Rheinberger von hier, besuchte, nachdem er der Musik wegen aus dasiger Gemeindeschule entlassen, beimUnterzeichneten seit anderthalb Jahr Privatunterricht in der Religion, deutscher Stylübung, in den Anfangsgründen der lateinischen und französischen Sprache.
Sein anhaltender Fleiss, Benehmen und Fortschritte waren in jeder Beziehung ausgezeichnet.
Dieses bezeugt hiermit mit eigenem Siegel und Handschrift:

Joh. Fr. Fetz d. z. Provisor
der fürstl. Hofcaplanei.

Vaduz den 6ten Oct. 1851

Für die Aechtheit dieses Zeugnisses und Eigenhändigkeit der Schrift und Unterschrift des H. Provisors Joh. Frz. Fetz hier
Bezirksamt Vaduz den 6. October 1851
Menzinger
Landesverweser".

Während seiner Privatstudien in Vaduz kam übrigens Rheinberger oft nach Feldkirch, denn, wenn es galt in einem Concerte eine künstlerische Mitwirkung zu erwerben, so wandten sich die Feldkircher fleissig nach Vaduz. Bei solcher Gelegenheit lernte Joseph den späteren Musikdirektor von Innsbruck, Herrn Nagiller [6] kennen. Dieser hatte in Paris einen Chorverein (Mozartverein) geleitet; doch machten sich im Jahre 1849 die revolutionären Bestrebungen so breit, dass Nagiller mit vielen Anderen Frankreich verliess und - auf der Reise Feldkirch berührend, dort ein Concert gab. Zu seiner Überraschung fand er als Mitwirkenden den kleinen Rheinberger, für den er sich sofort thätig interessirte, indem er einige Tage nach dem Concerte nach Vaduz kam und dem Rentmeister anempfahl, die höhere Ausbildung dieses Talentes am Münchener Conservatorium geschehen zu lassen. Noch war Joseph zu jung, aber im Herbste 1851 wurde doch sein Ränzel geschnürt.
Nagiller, welcher zunächst am Dom in Bozen und später als Director des Musikvereins in Innsbruck angestellt war, empfahl noch im letzten Lebensjahre - vielleicht kurz vor seinem Tode, es möge ein talentvoller Bozener Knabe Ludwig Thuille [7], für den er und seine Frau sich lebhaft interessirten, nach München in die Schule Rheinbergers (an welchem seine musikalische Hoffnung nicht getäuscht worden) gebracht werden. Frau Witwe Nagiller hielt treu das gegebene Versprechen und kam eines Tages nach Kreuth, dann nach München, um ihren Pflegesohn zu bringen. Auch sie folgte ihrem Manne bald im Tode. Am gleichen Tag ward ihm auch ein Zeugnis über erfolgreiche im Jahr seiner Geburt 1839 bestandene Schutzpockenimpfung [8] durch Landesphysikus Dr. Schädler ausgestellt. All dies zur Vorbereitung auf die bevorstehende Reise nach München an das dort unter Director Franz Hauser [9] errichtete Conservatorium für Musik. So kam dann die zweite Trennung von Hause heran, und diesmal war sie ernster, denn von nun an konnte man nicht mehr an den Samstagabenden zum Organistendienst hin und zurücklaufen. Das Bangen - ob er auch an einem so grossen Conservatorium Aufnahme finden würde?

Bruder Peter, Lieutenant in der Liechtensteinischen kleinen Bundesarmee, sollte seinen Studiosus nach München begleiten. Eisenbahn gab es dazumal nicht im October 1851 - wenigstens nicht in Vorarlberg und drüber hinaus. So fuhren die Beiden mit eigenem Gefährte aus der schönen Heimath fort.

Wie mag ihnen allen zu Muth gewesen sein? Den Eltern und Geschwistern? Und dem kleinen l2jährigen Joseph? Es ward immer flacher - zurn erstenmal hätte er den See sehen können, ware es nicht finster gewesen als die Feldkircherpost über Bregenz fahrend, Lindau erreichte. Dort blieb man über Nacht. Andern Tages fuhren die Beiden nach Kaufbeuren - mit Post - und dann nach Augsburg. Die Bahn brachte sie hierauf nach Naunhofen, von wo aus sie mit einem Wagen nach Türkenfeld, wo ein Liechtensteiner Namens Wolfinger als Pfarrer wohnte, fuhren. Joseph sollte ein paar Tage bei diesem bleiben und eine Art Übergang von der Heimath zur Fremde durchleben; denn Bruder Lieutenant Peter war nach München vorausgegangen, um vorerst einen kleinen Einblick von der ihm neuen Stadt zu gewinnen.
Der gute Pfarrer geleitete dann seinen Landsmann nach München. Irn Gasthaus zurn Stachusgarten stiegen sie ab, der neue Director Hauser ward besucht. Er wohnte damals in der Fürstenstrasse Nr. 13 [10].
Dieser höchst originelle und geistreiche Mann war ein Freund Moritz Hauptmann's [11] und wird durch die höchst interessanten Briefe, welche dieser an ihn geschrieben, seibst zu einer unvergesslichen Persönlichkeit. Während eines Zeitraums von 40 Jahren, 1825 begonnen, wuchsen die Briefe zur stattlichen Zahl von 400 und enthalten wahre Schätze an Kenntniss, Erfahrung und kluger, praktischer Auffassung, welcher stets die ideale Auffassung der Kunst zu Grunde liegt. Franz Hauser, der solcher Freundschaft Hauptmann's gewürdigt war, zählte 57 Jahre, als Rheinberger bei ihm eintrat.
Geboren 1794 zu Prag, erhielt er eine vollständige Gymnasialbildung und begann Jurisprudenz zu studiren, später die Medizin. Nachdem er privatim in der Musik praktisch ausgebildet war, bewegte ihn die Liebe zur Tonkunst und eine herrliche Stimme, sich der Sängerlaufbahn zu widmen. 1817 betrat er zuerst die Bühne und war bald ein gefeierter Barytonist in Kassel, Dresden, Wien, London, Leipzig und Berlin, bis er 1846 als Gesangslehrer und Director an das neu errichtete Münchner Conservatorium kam, wo er bis 1864 blieb.
Zwar hatte Franz Hauser ein grösseres Interesse für Sänger, als für Clavierspieler, fürchtete auch, es möchten Orgel- und Clavierspiel die Singstimme beeinträchtigen; allein er hatte gute Lehrer an der Seite - namentlich Julius Josef Maier [12] - auch ein "fertiger" Jurist, den die Liebe zur Tonkunst, namentlich zum historischen Theil derselben nach Leipzig zog, wo er unter Moritz Hauptmann studirte und dann nach München als Compositionslehrer kam.
Also die Aufnahmsprufung im Odeon sollte stattfinden. Pünktlich fand sich Joseph ein - nicht ohne pochendes Herz, ob er auch wohl bestehen würde. Als er jedoch durch die geschlossene Thüre die Spieler heraushörte, dachte er bei sich: "So kann ich's auch". Und als er seine Prüfung bestanden, trat Franz Hauser heraus und sagte zu den Andern: "Giovinotti, jetzt nehmt euch zusammen; da ist einer - der Kleinste von euch, der überholt euch alle schon jetzt".
Clavierspiel, Treffen in Spiel und Gesang, alles war für Joseph scheinbar ein leichtes Spiel. Carl Bärmann, nunmehr Virtuose und Lehrer in Boston, war damals auch "Aspirant" und hatte sogleich eine liebende Bewunderung für Joseph gefasst.
Der junge Musikus ward nun in der Findlingsstrasse bei einer kleinen Beamtenfamilie, Namens Perstenfeld, unter- gebracht und hatte täg1ich einen ordentlichen Marsch ins Conservatorium zu machen. Die Füsse waren aber behend, von Feldkirch - Vaduz her, das musste einmal ein "Wächter des Gesetzes“ zu seinem Verdruss erkennen, da Joseph beim Baumklettern in der Nähe des Krankenhauses ertappt, durch den Gendarmen verfolgt, aber von diesem im Schnellauf nicht erreicht wurde. Dieser wackere "Schandemuckel" hatte seine Kletter- und Sprungstudien nicht im Bergwalde und nicht auf der Landstrasse von Valdulsch gemacht!

Der damalige beste Clavierlehrer (in Ermangelung eines besseren) war Professor Christian Wanner und er wurde natürlich am Conservatorium angestellt. Auch Joseph war sein Schüler und erhielt Anleitung zu grösserer Fingerfertigkeit, Geist konnte aus diesem trockenen Gesicht nicht herüberströmen.

Der Harmonielehrer Professor Wohlgemuth war dem Schnupftabak und blaukarirtem Schnupftuch gleichfalls nicht so abhold, dass nicht die Begeisterung der Schüler darunter litt.

"Habens denn gar keine Gedanken", sagte er einst zu einer Schülerin, welche ein Motiv erfinden sollte, während er, im Zimmer auf und ab marschirend, seiner Nase die ausführlichste Pflege angedeihen liess. Das Mädchen, etwas schwärmerisch angelegt, blickte traurig auf das riesige Nasentuch und sprach seufzend: "Ach nein, Herr Professor, gar keine"!

Später sang ich als eifrige Dilettantin oftmals unter seiner Leitung am Chor der Basilika S. Bonifaz, erinnere mich aber stets mit Humor der Wohlgemuth'schen Art zu respondiren. Vom Altare her tönte es:

Tenor

[Notenbeispiel]

Do - mi - nus vo - bis – cum

und Wohlgemuth antwortete vom Chor, das Taschentuch schon in Nasenhöhe haltend

[Notenbeispiel]

et cum Schpiritu (Nasenschneuz/Trompetenstoss) tu – o

Über diesen Harmonielehrer war aber Rheinberger schon hinaus und er kam in die Contrapunktstunden von Dr. jur. Julius Josef Maier, welcher aus Leidenschaft für die "alte Musik", Volkslied und Bach seine juristische Laufbahn verlassen hatte, um bei Hauptmann in Leipzig zu studiren.
Dieser gelehrte Mann war durchaus nicht einseitig, sondern mit scharfem Verstande begabt. ("So gescheid ist der Herr Maier“, hatte einst seine Haushälterin gesagt, "dass sein Verstand auf der andern Seiten schon bald wieder nunter geht!“) Leider mussten die Stunden oft wegen seines schweren Kopfleidens unterbrochen werden, doch war er für Rheinberger, für den er sofort grosse Theilnahme fasste, ein ausgezeichneter Lehrer, nicht sowohl im Rahmen des Contrapunktes als auch für die allgemeine Musikbildung. Julius Maier versorgte ihn mit Büchern und Partituren und regte ihn durch seine manchmal sarkastischen Bemerkungen zu eifrigsten Studien an.
Wie er über seinen Schüler dachte, was er von ihm hielt, beweist das erste Jahreszeugnis, welches er ihm am 8. August 1852 ausstellte:

"Der Zögling des Königl. bayr. Conservatoriums für Musik Joseph Gabriel Rheinberger von Vaduz

hat in dem Schuljahre 1851/52 den Lehrcursus des Unterzeichneten über einfachen Contrapunkt besucht und darin bei seinem ausgesprochenen musikalischen Talente und seinem musterhaften Fleisse die befriedigendsten Fortschritte gemacht, so dass er sich bei der in diesen Tagen abgehaltenen Jahresprüfung auf das Rühmlichste auszeichnete".

Das zweite von Julius Josef Maier ausgestellte Zeugnis lautet noch günstiger:

"Der Eleve des Königl. bair. Conservatoriums für Musik, Joseph Rheinberger von Vaduz

hat im Schuljahr 1852/53 meinen Cursus über doppelten Contrapunkt bis zur Doppelfuge zu 4 Stimmen mit musterhaftem Fleisse besucht und sich dadurch eine für sein Alter so überraschende contrapunktische Fertigkeit und Sicherheit erworben, dass derselbe bei seiner ausgesprochenen musikalischen Begabung zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

München 12. Juli 1853                 Jul. Maier
                                                    Professor am C."

Die Zeugnisse der andern Lehrer lauteten diesen entsprechend, so konnten die Eltern schon zufrieden sein, als sie den Studiosus Musici wieder durch das niedere Gartenpförtchen in sein Heimathshaus eintreten sahen. Das war eine Freude! Und Joseph... so glücklich in der herrlichen Heimath und an seinem Flügel!

Gelegentlich einer Prüfung im Conservatorium fungirte Professor Schafhäutl [13] als Staatskommissär; es war ihm im Auftrage des Königl. Ministeriums (1853) der Auftrag eines ausführlichen Referates über das Königl. Musik- Conservatorium geworden.

Der Verehrer Abbé Voglers und Caspar Etts hatte sofort ein scharfes Auge und Verständnis für den begabten, aufgeweckten Joseph, und lud denselben ein, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Dieses traute und interessante Heim im alten Damenstiftgebäude (Altheimereck) mit dem sonnigen Blick in den schönen, stillen und weiten Garten des klosterartigen Baues bot eine wahre Auslese von interessanten Dingen; denn Professor Schafhäutl, damals von grossen Reisen in Frankreich zurückgekehrt, war als Professor der Geologie und Conservator der geognostischen Staatssammlungen, als Oberbibliothekar der über 300 000 Werke zählenden Universitätsbibliothek wegen seiner umfangreichen Kenntnisse für Jung und Alt, für Gelehrte und Ungelehrte, für Reich und Arm eine höchst anregende, belehrende, erfrischende und wohlthätige Persönlichkeit.
Joseph kam in diese Gemächer mit staunendem Blick: in eine neue Welt. Schönste Stunden brachte er lernend, schauend, beobachtend, zuhörend in dieser für ihn so überaus anregenden, kostbaren Umgebung zu und der ernste Ausdruck seines Gesichtes mochte dem Professor auch wohlgefallen haben - sonst hätte er ihn nicht am 30. Juni 1853 photographiren lassen.

Da sitzt er vor mir, der ernsthafte Student, den linken Ellbogen auf den Tisch, die linke Gesichtshälfte auf die Hand gestützt und in der Rechten ein beschriebenes Notenblatt haltend und schaut hinaus in die weite Zukunft - dennoch im Blick die innerliche Concentration, die ihm sein Leben lang treu blieb - wie auch die verständnisvolle Verehrung für Mozart, dessen Statue vor ihm auf dem Tische steht: eine Mahnung oder Ahnung, wo das Ideal der Tonkunst für den angehenden Componisten zu finden sei.

Auf der Rückseite des Bildes steht von Schafhäutl's Hand geschrieben:

"Joseph Rheinberger, geboren zu Vaduz am 17. März 1839. (photographiert am 30. Juni 1853)

Seinem lieben jungen Freunde als Erinnerung an den 18. Mai 1853. Prof. Dr. Schafhäutl".

Dieser Erinnerungstag bezog sich auf eine ausgezeichnete Leistung Josephs bei einer Orgelprüfung. Der "liebe junge Freund" durfte nun seine Erholungsstunden in belehrendster Weise bei Prof. Schafhäutl zubringen. Da wurden alte Noten durchgenommen, alte Steine betrachtet - auch des Öfteren bei Schafhäutls Hausherrn und Freund, dem alten Theobald Böhm [14] Flötenbegleitungen zurechtgemacht etc.. Freilich ging man auch gerne zu einem guten Diner zu Zunemanns, wo ein Kreis illustrer Jungesellen der soliden Gastronomie frönte. Der spätere Minister Freiherr v. Pfretzschner war damals der Adonis der Gesellschaft. Fleissige Sonntagsausflüge nach Nymphenburg oder der allbeliebten Menterschwaige boten köstliche Erholungsstunden und manchmal krönte noch die Abhörung einer Oper den genussreichen "Freundschaftstag".
Ich hab' die jungen Studenten immer gern um mich gesehen", sagte Schafhäutl später einmal, "aber einen zweiten Rheinberger hab' ich nie getroffen, weder vor noch nach ihm. Dieser gesetzte, liebenswürdige Ernst, dieses intelligente, charaktervolle Wesen"! -

Und in welcher Gesellschaft ware der junge angehende Componist besser aufgehoben gewesen als in dieser?
Die erste Oper, welche Rheinberger in München aufführen hörte, war Mozarts "Zauberflöte" und man kann sich vorstellen, mit welchen Erwartungen er diesem Genusse entgegensah. Allein die Enttäuschung blieb in so ferne nicht aus, als die Ausführung des Werkes von Seite der Sänger, wie auch in der Klangwirkung des Orchesters den idealen Ansprüchen des jungen Hörers nicht entsprach. In seinem Stübchen zu Vaduz, an seinem kleinen, aufrechtstehenden Flügel hatte er sich eine wahre Fülle von Klang und Schönheit vorgestellt - und nun klangen die Stimmen ehrfurchtslos - vieles wurde im Vergleich zu seiner Mozart würdigenden Empfindung gleichgültig heruntergesungen, die Feinheiten gingen verloren - auch in der äusseren Erscheinung der Musiker vermisste er jene Hingabe, die seiner musikalischen Empfindung so selbstverständlich schien.
Wie sollte das erst später sein, da er als Solorepetitor der Hofoper hinter die Kulissen und das "Handwerk" mit schnöder Hand in die Rechte der heiligen Kunst greifen sah!

Der Hauptlehrer für Orgel war Professor Herzog [15]. Nun waren Josephs Füsse lang genug geworden, um ohne Aufsatzpedal arbeiten zu können und die Bach'schen Präludien, Fugen und Passacaglien, die ganze Welt des Grossmeisters that sich auf in überwältigendem Klang. Geläufigkeit und Sicherheit im Partiturspiel war für Rheinberger ein selbstverständliches Ding. So währte es nicht lange, bis auch Herzog seinen Schüler wahrhaft schätzen lernte. Bisher hatte Joseph mit gewissem Respect zu seinem Orgelprofessor aufgeblickt, einmal lernte er ihn jedoch von sehr fideler Seite kennen:
Herzog lud ihn zu einem Spaziergang der Isar entlang ein. Ach! das war ländlich und schön! Zuerst lag eine grosse Wiese vor ihnen. In Herzog brach die Jugenderinnerung sich Bahn, die aufgestapelten Heuhaufen waren gar zu einladend. Quer lber die Wiese rennend sprang er übermüthig über die Heuberglein - Joseph ihm nach. Wer konnte es behender, wer sprang höher? Die Röcke ausgezogen - und nun Purzelbäume über die Heuhaufen - kein Lauscher war ja nah. Und nun kamen die Überfälle an der Isar. Balken schwammen im Wasser, des Flossdienstes harrend. Auf diesen zu balanciren - welche Lust! Der leichtfüssige Rheinländer sprang von Balken zu Balken, der gewichtigere Organist ihm nach - o weh! der Stiefel war zu plump - er rutschte aus, und Herzog fiel ins Wasser. "Ja, du kannst gut lachen", klagte er komisch, "du hast keine Frau zu Hause, die dich auszankt! Aber ich"! ...Nun wurden die Kleider und Strümpfe sorgfältig getrocknet und Joseph konnte sich nicht genug über dieVariationen im Gesichtsausdrucke seines Lehrers verwundern. Es war wirklich eine unvergessliche Stunde!

Als Professor Wanner sich vom Conservatorium zurückzog, wurde Emil Leonhard [16] Rheinbergers Klavierlehrer. Dieser gutmüthige Sachse mit wallend schwarzem Haar und nicht immer motiviert ausplatzendem zischendem Lachen und eingestreutem "Nun ja" wurde bald ein intimer Freund von Julius Josef Maier, und wenn die beiden mit ihren blonden resp. schwarzen Mähnen nebeneinander im Concertsaal erschienen, so konnte man viel treffende Weisheitsspruchlein hören. Es war ein originelles Freundespaar, deren Frauen später das Duo zu einem liebenswürdigen Quartett verdoppelten. Die Character waren zwar verschieden; während Julius Maier eine durchweg kritische Natur war und seine treffenden Bemerkungen mit gründlichen Tabaksprisen unterstützte, sprach Leonhard - allerdings mit fragenden Blicken nach der Gutheissung seiner Frau - in milderer Tonart. Sein Oratorium "Johannes" war ein tüchtiges Werk, wenn auch manche Chöre etwas bieder endigten.

Rheinberger nutzte seine Zeit aus.
Frühzeitig selbständig zu sein - sich im Unterrichten zu üben - Bach, Händel, Weber - selbst Mendelssohn durch Abschrift genau kennen zu lernen - welch eine Schule!

______________

[1] Adlerwirt = Das alte Gasthaus zum Adler ist heute Liechtensteinisches Landesmuseum in Vaduz.
[2] Cäcilientag = Sonntag nach Cäcilia (22. November)
[3] Uebersaxen = Ortschaft oberhalb Rankweil (bei Feldkirch)
[4] Altenstadt = Vorort von Feldkirch (heute eingemeindet)
[5] Schloss Vaduz = Seit der Herrschaft der Fürsten von Liechtenstein (1712) war das Schloss nicht mehr Wohnsitz der Landesherren. Es diente als Amtssitz verschiedener Beamter, Kaserne und bis 1896 als Gastwirtschaft. Fälschlich wurde es auch "Hohen -Liechtenstein" genannt.
[6] Nagiller Matthäus Nagiller (1815-1874), Tiroler Komponist.

[7] Ludwig Thuille = Ludwig Thuille (1861-1907), Schüler von Rheinberger in München, ab 1883 Klavier- und Theorielehrer an der kgl. Musikschule (neben Rh.) in München.
[8] Schutzpockenimpfung = Als erster Staat führte Liechtenstein im Jahre 1812 den "Impfzwang zur Bekämpfung der schwarzen Blattern" ( = Pokken) ein.
[9] Franz Hauser = Franz Hauser (1794-1870) geschätzter Bassbariton, ab 1846 Direktor des (Hauser'schen) Konservatoriums in München. H. besass eine bedeutende Sammlung von Handschriften J.S.Bachs und war Vorstandsmitglied der ersten Bach-Gesellschaft.
[10] Fürstenstrasse = heute Rheinberger-Strasse
[11] Moritz Hauptmann = Moritz Hauptmann (1792-1868) Geiger und Komponist, seit 1842 Thomaskantor und Theorielehrer in Leipzig.
[12]  Julius Josef Maier = Julius Josef Maier (1821- 1889) Schüler M.Hauptmanns, ab 1850 Lehrer für Kontrapunkt in München, 1857-87 Konservator der Musikabteilung der Hof- und Staatsbibliothek in München.
[13] Professor Schafhäutl = Dr.phil.Dr.med.Karl Franz Emil von Schafhäutl (1803-1890), Geologe, Physiker und Musikwissenschaftler, Professor der Geognodie, Bergbau- und Hüttenkunde an der Universität München (vgl. u.a. Art. "Schafhäutl" in MGG XI, Sp. 1542). Der vielseitige Gelehrte wurde für Rh. 's Entwicklung von grösster Bedeutung. (s. auch S. 111ff.)
[14] Theobald Böhm = Theobald Böhm (1794-1881), Flötist, Mitglied der Hofkapelle in München, verbesserte sein Instrument ("Böhm-Flöte").
[15] Professor Herzog = Johann Georg Herzog (1822- 1909) Organist und Orgellehrer in München, ab 1854 Dir. des Instituts für evangelische Kirchenmusik an der Universität Erlangen. Das Amt des Thomaskantors lehnte er 1868 aus gesundheitlichen Gründen ab. Seit 1888 wieder in München.
[16] Emil Leonhard = (Julius) Emil Leonhard (1810- 1883) seit 1852 Professor des Klavierspiels in München, ab 1859 in gleicher Eigenschaft am Konservatorium in Dresden. Trat auch als Komponist an die Oeffentlichkeit.