Anonymer Aufruf zur Annahme des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung in der Volksabstimmung vom 22. November 1931


Anonymes Flugblatt, vermutlich vom Liechtensteiner Arbeiterverband [1]

o.D. (Mitte November 1931)

An das Volk in Liechtenstein 

Mitbürger 

Du weisst, wie die heutige Wirtschaftslage ist; wie sie droht, Existenzen zu vernichten und Familien ins Elend zu stürzen!  

Hilf mit, solches zu verhüten, sei eingedenk der Worte:  

Einer für Alle;  

Alle für Einen!  

Kommender Sonntag, der 22. November [1931]  

ist ein bedeutungsvoller Tag für die liechtensteinische Arbeiterschaft. Nach vielen Bemühungen haben Landtag und Regierung das vorliegende Gesetz über die

Arbeitslosenversicherung [2]

beschlossen und dem Volke zur Abstimmung vorgelegt. Liechtenstein steht mit einem solchen Gesetze nicht allein da; alle europäischen Staaten, in denen das Problem der Arbeitslosigkeit und der Arbeitsbeschaffung vorhanden ist, haben schon längst die Arbeitslosenversicherung eingeführt. Dieses Problem gibt nun heute auch Liechtenstein zu schaffen; denn die grosse Krise rings um unsere Nachbarstaaten hat vor unserer Grenze nicht Halt gemacht.  

Ständig kehren Saisonarbeiter aus dem Ausland zurück, da sie entlassen sind,  

und sind auch bei unseren Betrieben im Inlande Entlassungen allseits vorgekommen.

Es werden zwar umfassende landschäftliche Arbeiten als Notstandsarbeiten unternommen, doch kann es vorkommen, dass auch diese zeitweise dem Arbeitsangebot nicht Genüge leisten. Für diese Zeit des vollständigen Arbeitsstillstandes soll die Arbeitslosenversicherung etwaiger aufkommender Not Einhalt gebieten.

Ein jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit 

das heisst auf ein Auskommen, um wenigstens seine Familie und sich menschenwürdig  zu ernähren; deshalb hat der Staat die Pflicht, Arbeitslosen eine entsprechende Unterstützung zu gewähren.

Der Staat trägt diese Unkosten der Versicherung nicht allein ,

denn ein jeder, der an die Versicherung Ansprüche erheben will, muss durch monatliche Beiträge an die Kasse sich diesen Anspruch verdienen.

Die Arbeitslosenversicherung ist keine Institution für Arbeitsscheu oder Faulenzertum. Staat und Gemeinden werden ihre Arbeiten auf den Zeitpunkt verlegen, in dem das Gespenst der Erwerbslosigkeit aufzukommen droht.  

Ein jeder, der erwerbslos ist und Unterstützung beziehen will, muss sich jeden Tag beim Ortsvorsteher melden. Dieses hat zur Folge, dass ein Arbeitswilliger nicht umsonst  Tag für Tag in andere Gemeinden Arbeit suchen gehen muss und seine letzten ersparten Franken so aufgehen, sondern, dass der Vorsteher ihm gleich sagen kann, da oder dort ist Arbeitsgelegenheit.

Die Annahme der Vorlage  hat auch für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe eine Bedeutung, denn wenn der Arbeiter nichts verdient und für die Zeit nicht mit einer Unterstützung versichert ist, so leiden auch alle anderen darunter, da sie ihren Produkten nicht den Absatz geben können.

Es ist daher moralische Pflicht aller Mitbürger, diesen Grundgedanken, die Vorlage des Gesetzes der Arbeitslosenversicherung in objektiver Weise zu behandeln.  

Bauern, Beamte, Handels- und Gewerbsleute, denkt am Sonntag auch an die Arbeiter und deren Familien, lasst Euch nicht gleich sein, was mit diesen bei Arbeitslosigkeit geschieht.  

Erblickt in der Schaffung der Arbeitslosenversicherung ein Werk christlicher Nächstenliebe, ein Werk des Ausgleichs zwischen Arbeiter und Staat, ein Werk des liechtensteinischen Gemeinsinnes.  

Und wenn ein jeder Mitbürger daran denkt, dass jedem das Seine zu geben ist, dann kann er am  

Sonntag nur ein kräftiges  

Ja  

in die Urne legen. [3]

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[1] LI LA RF 118/137/092. Ein weiteres Exemplar in LI LA SgZg 1931/01.
[2] Der Landtag stimmte dem Entwurf für ein Arbeitslosenversicherungsgesetz am 1.9.1931 einstimmig zu und beschloss, das Gesetz einer Volksabstimmung zu unterbreiten. Zum Wortlaut des Gesetzes (Referendumsvorlage) vgl. LI LA RF 118/137/093.
[3] Das Gesetz wurde vom Volk am 22.11.1931 mit 653 Ja- zu 1152 Nein-Stimmen verworfen (Stimmbeteiligung 84,9 %).