Rheinberger beschreibt Henriettes Charakter und erzählt aus früheren Jahren.


München, d. 16.2. 01

(Sonnenschein !)

Meine theuerste Freundin!

Da sitz' ich nun, ich armer Thor, und komme ganz beschämt mir vor - beschämt durch Ihren so gütigen, herzlichen Brief, wo ich nur einen kurzen Gruss erwartete - beschämt durch das nebenanliegende Regenwetter meinerseits, das allerdings ein wenig von Ihnen provoziert, aber auch zum Theil durch Ihre so liebe, heutige Antwort überholt ist. Danke 1000mal - und auch ein klein wenig der garstigen Influenza, die mir so viel Liebes brachte. - Da ich mir vorgenommen habe, auf Alles, was Sie schreiben, einzugehen (wie Sie schon bemerkt haben werden) so kann ich natürlich in diesem Nachtrage zu dem schon fertig gestellten Briefe nicht allen Stoff bewältigen; ich werde aber gewissenhaft alle Themen zu beantworten suchen. Es ist gut so, und gibt der Plauderei die nöthige Abwechslung von Humor und Ernst. -

Also nur der Influenza wegen sind Sie zahm und sanftmüthig? die letzten so liebenswürdigen Eigenschaften suchen Sie noch zu entschuldigen? Ich glaube, Sie werden einmal eine schwer zu behandelnde "verehrte gnädige Frau" sein - manchmal ganz unberechenbar, und doch möchte ich Sie nicht launenhaft nennen. Es ist in Ihrem Charakter irgend etwas räthselhaft, unausgeglichen, nicht zum Ganzen passend. Schon viel habe ich darüber nachgedacht - überhaupt habe ich über meine edle Gebieterin schon viel zu viel nachgedacht - weniger wäre mir besser gewesen; aber da ist nichts mehr zu ändern! - Also ernstlich die Influenza? Da seien Sie ja nicht leichtsinnig, indem Sie allenfalls zu früh ausgehen, denn diese Krankheit hat ihre Tücken! Mein ältester Bruder[1] bezahlte die Missachtung derselben mit seinem Leben (1889). Aber ich hoffe, dass man Sie hierin scharf beaufsichtigt. Ich wollte nicht davon sprechen: aber von Weihnacht bis Ende Januar war ich sehr schlecht daran und wenn ich auch fast täglich einige Zeilen, heiter oder ernst an meinen theuren Freund schrieb, so waren es meine einzigen, guten Stunden, obschon ich mich mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, ihn nie mehr zu sehen! Ich nahm mir vor, trotz allem Übelbefinden mich nicht zu ergeben. Die kurze Strecke von meiner Wohnung zur Akademie (etwa wie von der zweiten Terrasse[2] bis zur Ökonomie) aus musste ich häufig fahren; und selbst da kam es vor, dass ich unterwegs aussteigen musste, weil ich es vor Beklemmung im Wagen nicht aushalten konnte. Tag für Tag nahm ich mir vor, an Olga zu telegrafieren, damit sie wenigstens auf kurze Zeit zu mir komme, um das Nöthigste zu besprechen, - allein, da starb ihre Mutter, und seit 14 Tagen hat sich jener unheimliche Zustand gebessert, so dass ich wieder hoffen kann. Doch genug von diesem unerquicklichen Thema! Eben hat mich ein Besuch unterbrochen, aber ein sehr lieber. Miez lernte 1866 auf dem Rigi eine junge Pariser Dame (Madm. Gouvy) eine geborene Deutsche kennen, die sich ihr auf das intimste anschloss. Als Schwägerin des berühmten Komponisten Gouvy[3] war sie selbst auf das Feinste und Gründlichste musikalisch gebildet und blieb Miez brieflich bis zum Tode auf das Rührendste treu; dann trug sie ihre Freundschaft auch auf mich über, aber ohne mich persönlich zu kennen. Dafür kannte sie meine "Noten" umso genauer. Sie hatte auch Miez nicht mehr gesehen, und kam nun zum erstenmal nach München; sie wollte die Räume sehen, wo ihre unvergessliche Freundin gelebt hatte, und mich, den sie gut oder auch gar nicht kannte, noch so recht erzählen lassen. Von der Wirksamkeit der "Modernen" in Paris in Betreff Kunst, Wissenschaft, Theater, Musik usw. usw. berichtete sie Haarsträubendes; sie habe sich einen Ekel geholt; - unsere Modernen in Deutschland seien noch brave Kinder dagegen. (Nachdem was ich von Letzteren. hier gehört und gesehen, sind das freilich eigenthümliche "brave Kinder"!) Leider bleibt Frau Henriette Gouvy nicht lange hier und sind solche Begegnungen nur sporadisch. - Wie auf Verabredung erhielt ich gestern und heute so viele musikalisch erfreuende Briefe, dass es viele Arbeit geben wird zu antworten. Und der liebste dieser Briefe war gar nicht musikalisch! -

Um nochmals auf Pettenkofer zu kommen, bemerke ich, dass er ein tiefreligiöser, kindlich bescheidener, herzensguter Mann war, leider aber auch melancholisch in höchstem Grade. Er hatte vor wenig Jahren einen irrsinnigen Bruder verloren; die tödtliche Furcht, demselben Schicksal zu verfallen, verleitete ihn zu dem unseligen Schritt! -

In Betreff Olga's hatte ich nur Befürchtungen ausgesprochen, Gottlob ohne Anhalt. So hat man zu den eigenen auch fremde Sorgen. Vielleicht ist das gut und verhindert das Sich-Festsetzen gewisser Ideen. Nun kommen drei Tage Ferien - da gibt es freie Zeit, Ihr liebes Schreiben Punkt für Punkt zu beantworten, - ohne Regenschauer, zu welchem es ja keinen Anlass gibt. Ob aber lauter eitel Sonnenschein, weiss ich nicht - es mag wohl manch melancholischer Gedanke mit unterlaufen, doch nur mich betreffend. Ihnen, meine theure Freundin, wünschte ich auch Erholung von der kleinen geistigen Influenza: Pessimismus, Grübelei usw. - Sie verstehen mich wohl! Ach! Ich meine es so gut!

Faschingssonntag, 17. 2. 01.
Abends, (München)

______________

[1] Mein ältester Bruder = David

[2] von der zweiten Terrasse... = in Wildbad Kreuth

[3] des berühmten Komponisten Gouvy = Theodore Gouvy (1822-1898), französisch-deutscher Komponist