Rheinberger über Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Grades, Liebe und Einsamkeit.


München, den 27. 1. 01

Meine theure Freundin!

Früher schrieb ich Ihnen, dass nach meiner Meinung Niemand (auch nicht in vielen Jahren) ein so leises Verständniss für Sie, Ihr Wesen und Ihre Ansichten haben werde, als ich. Mit einem kleinen Anflug von Ironie fragen Sie mich heute, ob ich noch dieser Ansicht sei? Ich gestehe, ein paarmal in Beurtheilung Ihrer irre geworden zu sein, wohl deswegen, weil Sie Ihren momentanen Stimmungen manchmal grossen Spielraum gönnen - nennen Sie sich ja selbst wiederholt "ein schwankend Rohr" - und glauben sich dann damit gerechtfertigt zu haben. In Einem sind sich so viele Frauen (auch Miez) ähnlich: "So bin ich eben, man muss mich halt nehmen wie ich bin". Auch meine hohe Gebieterin sieht sich in diesem Spiegel. Und so will ich denn schweren Herzens meinen Spruch dahin abändern: dass nach meiner Meinung Niemand (auch nicht in vielen Jahren) eine so grosse Verehrung für Sie, Ihr Wesen und Ihre gütige Freundschaft haben wird, wie Ihr ergebenster Korrespondent - Sie müssten denn sich total verändern, und das wollen wir nicht hoffen! Kennen Sie den Schmerzensschrei König's Franz I. von Frankreich: "Souvent femme varie, bien fou qui s'y fie" - es passt zwar nicht hieher, soll aber seit jener Zeit oft zitiert worden sein.

Sie meinen, Kätchen in der "Zähmung" hätte nicht so nachgiebig sein sollen; ich bin der Ansicht, dass sie schlauer war: nachdem sie nachgegeben und dem rauhen Petruchio seinen wohlfeilen Triumph gegönnt hatte, konnte sie ihn ganz gewiss um den Finger wickeln, oder ich müsste die Männer schlecht kennen! Daraus könnte man viel lernen. -

Welche Summe von Grösse und Weltweisheit steckt doch in diesem grössten aller Dichter! Jedes Stück ist einheitlich und ein erschöpfend Ganzes: Macbeth, Ehrgeiz. Othello - Eifersucht. Romeo und Julia = hohes Lied der Liebe. Lear - Königsunglück. Kaufmann von Venedig - fanatischer Hass. J. Caesar - Sturz des Weltgebieters. Hamlet - Wahnsinn usw. usw. Coriolan, Cymbeline, Antonius und Cleopatra, die Lustspiele, die Königsdramen, es ist gar kein Fertigwerden, und fast alles Typen! Aber zum vollen Genuss gehört doch schon ein gewisses Mass von Welterfahrung. Wie komme ich auf all dies? Da ist nur Käthchen daran schuld! -

 

29.1.

Wie sehr begreife ich, was Sie von der Schwierigkeit schreiben, in die ein Mädchen in guten Verhältnissen versetzt wird, das in die Lage kommt, wählen zu sollen. Ideal wäre es, gar nicht zu wählen, auch nicht gewählt zu werden, sondern das innerliche "Müssen" abzuwarten. Wer erst wählt, der liebt nicht; und eine Ehe ohne die zwingende Liebe möchte ich mir gar nicht vorstellen - obschon nicht geläugnet werden kann, dass es manchmal auch gut geht und "man sich recht wohl verträgt, so dass man sogar den Bekannten als "musterhaftes, glückliches Paar erscheint". Es ist dies auch wohl der Durchschnitt der Ehen bei entsprechender Gleichheit der äusseren Verhältnisse und dem gleichen Bildungsgrade. Kommen dann noch Kinder dazu, welche die sorgsame Mutter fast ganz absorbieren, so gewöhnt sich Alles recht gut zusammen und es können alle Betheiligten zufrieden sein. (Ich komme mir fast komisch vor, Ihnen dergleichen zu schreiben; aber in welch seltsame Lagen geräth man nicht oft im Leben!) Zu Zweit aber ist es denn doch etwas anders; man macht grosse Ansprüche an sein "zweites Ich" - und das erste Heraufdrängen, dass man sich in der Wahl getäuscht hat, muss furchtbar sein. (Soll ich so fortplaudern?) Bald nach Miez' Tode drangsalierten mich manche meiner Bekannten mit Wiederverheirathen: der eine wusste eine glänzende, der Andere eine passende, dann eine reiche, musikalische (!) liebenswürdige usw. usw. Partie - wenn ich geliebt hätte, so würde ich ja selbstverständlich den Schritt gethan haben, aber ohne das nicht; denn, wie ich Ihnen schon geschrieben: heirathen soll man selber, aber sich nicht verheirathen lassen - dazu ist die Sache viel zu ernst. Sie sehen also, ich kann von dem verpönten Thema auch reden, und mit Humor; aber jenem, den Sie in Ihrem letzten, lieben Briefe "Galgenhumor" nannten; man soll auch nicht leichtsinnigerweise den Teufel an die Wand malen. Wenn meine edle Gebieterin eines Tages im Ernstfalle vom Heirathen schreibt, wird mir der Humor schon vergehen! Möge Hänschen recht behalten: 's pressiert ja nicht - kaum zwanzig - und ein langes, langes (hoffentlich glückliches) Leben vor sich! Da aber so häufig davon die Rede ist, scheint das Gespenst doch zu spuken! - Sie schreiben: ... "muss ich denn grad' denen, die ich liebhabe, weh thun ... oder wären das nur schwarze Gedanken, die im Sonnenlicht verbleichen?" ... sollten Sie unter jenen auch meine Wenigkeit mit inbegriffen haben, so gestehe ich ehrlich, aber ohne allen Vorwurf, dass Sie mir in Ihren Briefen schon oft weh gethan haben und es noch thun, und dass ich Ihnen gegenüber viel empfindlicher geworden bin, als ich's sonst war. Das kommt eben daher, dass Sie auch im Stande sind, mich oft mit wenig Worten zu beglücken, wie's niemand auf der Welt könnte - es muss sich eben ausgleichen. Sie haben eine Macht über mich gewonnen, die mir oft schon unbegreiflich erschien, wenn ich bedenke, dass wir Alles in Allem zusammengenommen gewiss uns nicht fünf Minuten gesprochen haben - ja unter vier Augen vielleicht fünfzig Worte wechselten! Wie viel und wie lange habe ich schon darüber nachgedacht - wie viele Vernunftgründe habe ich aus allen Winkeln meines armen Gehirns schon dagegen aufgeführt - wie oft die Thorheit dieses Traumlebens bekämpft - Sie sind mir wie das Sonnenlicht; ich kann wohl zeitweise die Augen schliessen, aber wenn ich sie wieder öffne, so scheint die Sonne unbekümmert fort. Was habe ich denn gethan, in diesen Zustand zu gerathen? Höchstens versäumt, demselben von Anfang an energisch zu widerstreben. Eben so vorwurfslos sind Sie in meinen Augen; dass Sie mich mit Liebenswürdigkeit grüssten, ist ja etwas, das Sie auch wohl allen sympathischen Menschen erwiesen - ich trau es wenigstens Ihrem im Grunde so gütigen und edlen Naturell zu. Vielleicht ist Ihnen dieser mein Seelenzustand, den ich hier so offen geschildert, peinlich; aber Sie können ruhig sein, es werden Ihnen von meiner Seite nicht die leisesten Verlegenheiten erwachsen; Alles, was ich Ihnen schreibe, bleibt in Ihrem Vertrauen, wie Alles was Sie mir mitzutheilen so freundlich sind, in mir verschlossen bleibt. Wie viel habe ich in diesen Monaten schon damit zugebracht, Ihr Wesen zu ergründen; wie oft warfen dann ein paar Worte meinen ganzen Bau über den Haufen. Worin liegt denn schliesslich der Zauber, der mich zwingt, immer wieder das Durchdachte auf`‘s neue durchzudenken? Im Mittelalter hätte ich Sie der Zauberei anklagen müssen - oder gar der Hexerei! Seien Sie also froh, dass wir hierin wenigstens "Moderne" sind! Wenn ich so fortträume und mir vorstelle, dass Sie möglicherweise nach Jahren einen Brief wie diesen zufällig wieder lesen würden, wie eigenthümlich konfus müsste Ihnen dies Alles erscheinen, und doch wie ist Alles von mir durchlebt und ohne alle Übertreibung! Sie schreiben ferner: ... "oder wären das (dass Sie denen, die Sie lieben, wehthun) nur schwarze Gedanken, die im Sonnenlicht verbleichen?" Zum grossen Theil gewiss; gerade was man Abends schreibt, oder sich in der Nacht ausdenkt, erscheint einem (wenigstens mir) Tags über gewöhnlich zu schwermüthig, zu schwarzseherisch. (Denken Sie an das Winteridyll.) Wenn ich zum Beispiel eine etwas schwierige Aufgabe, der ich mich nicht entziehen kann, vor mir habe, so drückt das mich in der Nacht zuvor mit Zentnerlast, während ich Vormittags darüber lachen kann, mich davor geängstigt zu haben; drum sagten wohl schon die Alten: (im Gegensatz zu den Modernen) "Die Nacht sei des Menschen Feind". Wie wäre das erst geworden, wenn ich wie so manche Andere das Glück gehabt hätte, Sie täglich Stundenlang zu sprechen! Ich darf gar nicht daran denken - lachen Sie mich aus, oder zanken Sie mit mir, dass ich immer wieder darauf zurückkomme: es wird Sie nie wieder Jemand so tief und innig verehren, wie ich es thue, und es thun muss! (Im vorigen Brief hatte ich mir vorgenommen, meiner Verehrung für Sie keinen Ausdruck zu geben - und nun dieser Brief! Bin nicht ich auch ein "schwankend Rohr"?)

 

Freitag, den 1. Februar.

Kennen Sie den altdeutschen Spruch? "Allzeit fröhlich ist gefährlich; . allzeit traurig ist beschwerlich; allzeit glücklich ist betrüglich; eins um's andere nur vergnüglich." So (wenn möglich) wollen wir es auch mit unserer Korrespondenz halten. Die erste Zeile bringe ich beim besten Willen ohne- dem nicht zusammen, - eher die zweite; doch will ich mir Mühe geben, sie nicht überwuchern zu lassen. Die Dritte wird mir nie mehr blühen - bleibt also die vierte: von jeder Zeile ein Bischen etwas! und damit wollen wir uns begnügen! In diesem meinem Schreiben ist wohl dieser "Durcheinander" - wenn Sie aber finden, dass die erste und dritte Zeile entschieden zu kurz kommen, so ist wohl der strenge und hässlich kalte Monat Januar hauptsächlich schuld, der meiner kranken Brust hart mitspielte. Möge der Februar gelinder verfahren! Die zweite Zeile kam wohl mehr zur Geltung, doch gab ich mir tapfer die Mühe, es nicht zu arg zu machen. Wenn Sie mir schreiben, meine hohe und edle Gebieterin, so bitte ich, die zweite Zeile soviel als thunlich zu ignorieren, und die vierte ist wohl das Feld, wo wir uns am besten treffen. Und wenn es auch nicht gerade "vergnüglich", so kann es ja noch etwas besseres: nämlich "Friede bringend" sein, und das ist mehr werth!

Ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn wir über eine Sache nicht übereinstimmen; und da ich durchaus nicht verlangen kann, immer Recht zu behalten, so sollen Sie mich in jedem "Streit" möglichst versöhnlich und entgegenkommend finden; deswegen braucht man ja noch keine Prinzipien preiszugeben! aber Sie müssen es "halt" ebenso machen. Sie fragen, was ich jetzt musikalisch arbeite - ach! da haben Sie einen bösen Punkt berührt! meine einzige Arbeit seit wir uns zuletzt sahen, ist eine "akademische" Ouvertüre[1], die ich der philosophischen Fakultät der Universität München aus Dankbarkeit dafür dedizierte, dass sie mich zum Dr. philos. ernannte. (Haben Sie meinen kleinen philos. Exkursen noch nie den "Doctor" angemerkt?) Es ist eine sehr "gelahrte" Arbeit, die Sie wohl nie zu hören bekommen werden. Meine Thätigkeit an der Akademie von 8-10 Uhr früh täglich ermüdet mich jetzt; dann lese ich die Zeitung, erledige die Briefe und Correspondenzen, um 1 Uhr esse ich (gewöhnlich ohne Appetitt) von ½ 3 - ½ 4gehe ich in's Kaffee; von 4- ½ 8 ist meine beste Arbeitszeit, wo ich mich auch körperlich am wohlsten fühle - aber statt Noten zu schreiben, spiele ich Klavier und schreibe lieber Plauderei an einen fernen Freund, den ich über Alles liebe, und so bleibt zum Komponieren keine Zeit mehr! So kleine Sachen, wie einzelne Lieder, Gelegenheitschöre usw. usw. zählen ja nicht. Finden Sie nicht, dass sich dieses Schreiben von all meinen anderen durch eine besondere Eigenschaft auszeichnet? Es ist nämlich durch 9 Seiten nur von mir die Rede; und doch war ich nie weniger Egoist! Es beruhigt mich zu hören, dass Sie auch tagelang so von einem Traum hingenommen sein können, dass für nichts Anderes mehr Platz bleibt. - Sie deuten den Traum anders als ich - ach! Sie haben recht: wenn sich der Wanderer einmal "ohne Herzklopfen" höher und höher emporheben wird, - dann wird die schwarze Gestalt allein zurückbleiben! -

Hiemit Gottbefohlen - in unveränderlicher Anhänglichkeit,

Ihr ergebener J. Rh.

______________

[1] eine «akademische» Ouvertüre = «Akademische Ouvertüre» in Form einer Fuge zu 6 Themen für grosses Orchester, op. 195, komp. 1898.