Rheinberger über Religion, Schachspiel, Musik etc.


München 23. 10.00.

Verehrteste Freundin!

Sehr wohl begreife ich, dass die Bernhard'schen Photographiererfolge aneifernd wirken - nein, Scherz bei Seite: Frl. Gertrud Lühe aus Breslau hat in Kreuth einige wirklich hübsche Bilder zu Stande gebracht, worunter aber mein Konterfei nicht zu zählen sein wird; sie musste wohl derselben Ansicht sein, da ich es nie zu Gesicht bekam - vielleicht war aber mein eigensinniger Kopf selbst an dem Misslingen schuld. Ich bin nun sehr gespannt auf Ihre Resultate in dieser Kunst; jedenfalls ist es eine sehr anregende, unerschöpflich interessante Beschäftigung, und meine verehrte Leserin wird mit leichter Mühe bald ihre Umgebung zwingen, "freundlich zu lächeln!" So heisst wenigstens das stereotype Wort der "Schattenbildner". Ich besitze eine Photographie meiner Wenigkeit aus dem Jahre 1852 od. 53, von Hanfstängl, (also aus der ersten Zeit dieser Kunst überhaupt) die damals ein Musikfreund machen liess. In jener Zeit musste man 30-35 Sekunden lang regungslos aushalten, was nur Leute ohne Nerven zu Stande bringen; auch konnte man nur an ganz hellen, sonnigen Tagen Aufnahmen machen.

Sehr wahr ist, wie Sie schreiben, dass eine einzige Stunde vermöge, die Sommerpläne für Kreuth zu vernichten; hoffen wir, dass diese eine Stunde niemals komme; ich wenigstens will mir die Zwischenzeit nicht mit Zweifeln verderben und hoffe fest auf das Wiedersehen. Wiedersehen - wie eigenthümlich: wir sind uns ferne, brieflich so nah vertraut, dass wir uns bei der ersten persönlichen Wiederbegegnung fast ein wenig "angefremdet" vorkommen werden; und das ist insoferne in Kreuth vielleicht gut, als die dortige Badegesellschaft nicht immer ganz harmlos ist, wie ich einmal selbst erfahren musste. Ich persönlich würde zwar dergleichen verachten, doch über Sie darf auch nicht der leiseste Hauch einer Nachrede kommen. - Haben Sie den so eigenthümlichen (engl.) Roman "Ben Hur" von Wallace gelesen? Ein herrliches Buch; es spielt zur Zeit Christi im Orient. Schon das erste Kapitel, wie sich die hl. 3 Könige in der Wüste finden, ist ausserordentlich eigenthümlich und fesselnd. Die Person Jesu erscheint nur einmal, wie verschleiert vorübergehend und mit höchster Pietät behandelt. Die Sittenschilderung der Juden und Römer, sowie das Historische und Landschaftliche ist von wunderbarer Wirkung. Auch die deutsche Übersetzung ist gut. Wahrscheinlich aber haben Sie dies sensationelle Buch schon gelesen. - Ebenso werden Sie Manzoni's klassischen Roman "Promessi sposi" (Die Verlobten) kennen, der schon Goethe entzückte; ich komme zufällig darauf und habe Sie (glaube ich) schon früher auf dies schönste aller italienischen Bücher aufmerksam gemacht. - Meine theure Freundin! Eigentlich wollte ich Ihnen das heute übersandte italienische Reisebuch meiner Frau "Jenseits des Brenners"[1] zu Ihrem Geburtstage schicken; da ich aber denselben dank Ihrer Taktik nicht erfahren kann, so bitte ich, erst an jenem Tage darin zu lesen. Das Porträt meiner Frau[2] ist gut, es ist ihr letztes und zeigt schon Leidensspuren. (Gerne hätte ich Ihnen eines aus jüngeren Jahren übersandt, aber ich habe sie alle im Todesjahr verschenken müssen.) Glauben Sie aber ja nicht, dass ich mich beraubte, da ich noch mehrere Exemplare besitze. Wenn Ihnen an dem Buche Manches fremdartig vorkommen wird, z. B. in den religiösen Erörterungen, die nach der innigen Überzeugung der Verfasserin auf festgläubigem Boden ruhen, so wollen Sie dieselben einfach überschlagen, da mir, obschon ich jenen Standpunkt theile, nichts ferner liegt, als hierin irgendwie auf Sie einzuwirken. Wer mich im geringsten kennt, wird dies selbstverständlich finden. Andererseits wird aber der warme kunstbegeisterte Ton, der feurig für alles Schöne eintritt, verbunden mit dem reichen Quellenstudium, das mehr als ein Jahr strenger Arbeit kostete, Sie gewiss angenehm berühren. Ihr "anhänglicher" Korrespondent spielt nur eine kleine Rolle darin, da ich zum Entsetzen der Autorin vor der Drucklegung circa fünfzig Seiten gestrichen habe, um meine Person möglichst in den Hintergrund verschwinden zu lassen; die kleinen Episoden sind streng wahr. - Als H. v. Bülow mich vor seiner letzten Reise nach Italien sah, zog er das Buch aus der Tasche und sagte schmunzelnd: "diesmal reise ich nicht nach Bädecker, sondern nach Frau Rheinberger". Möge Ihnen das Werkchen lieb werden, wie es schon Vielen lieb geworden ist, die weder mich noch die Autorin kennen oder gekannt haben. - (Die italienische Reise fand 1874 statt.)

 

25.10.

Auch gestern kam ich wieder um das liebgewordene Schreibeplauderstündchen; es kam eine alte Dame aus Leipzig (Schwester meines langverstorb. Freundes Franz von Holstein) und brachte mir ein Paquet Briefe meiner Frau an die Familie Holstein zurück, und da musste wieder viel "Erinnerung" genossen werden, denn unsere Bekanntschaft datiert aus meinem ersten Aufenthalt in Leipzig (1867). Da kam ich mir wieder so recht halbgestorben, als übriggeblieben vor. Damals besuchte ich auch Berlin, war im Thiergarten, jedenfalls auch in der Gegend Ihres jetzigen Heims, ohne Ahnung, dass so viele Jahre nachher meine Gedanken so häufig dort verweilen würden! - Wenn Sie einst mein gegenwärtiges Alter erreicht haben werden (1941)!, so erinnern Sie sich dann vielleicht meiner, blättern vielleicht in längstvergilbten Briefen und lächeln vielleicht wehmüthig über menschliche Thorheit. - Wenn dieser heutige Brief vielleicht etwas kürzer ausfällt als gewöhnlich, so bitte ich nicht zu glauben, dass meine Gedanken weniger nach der Thiergartenstrasse 6a gewandert seien; allein ich musste meine etwas stark vernachlässigten häuslichen und wirtschaftlichen Interessen und Rechnereien vornehmen, die mich allerdings weniger berühren, als wenn ich eine eigene Familie hätte. Doch "der Mensch lebt nicht allein von Poesie und Musik", - sondern muss sich auch von Zeit zu Zeit um Ziffern kümmern, was ich zum eigenen Schaden immer möglichst hinausschiebe. Wenn dies aber geschehen ist, werde ich wiederum "Poesiemensch" sein, da mir alles mit dem Rechnen Zusammenhängende von jeher lästig war.

 

26.10.

Rembrandt's Saul und David[3] liegt jetzt vor mir. Sie haben das eminente Bild so vortrefflich als möglich charakterisiert; wie meisterhaft ist auch der jüdisch-schlaue Zug in des jungen David's Gesicht! Es ist ein David, der auf den Thron spekuliert, nicht der poetische, trauernde Freund Jonathan's, der so ergreifend zu klagen versteht! Rembrandt ebenbürtig schildert Händel in seinem Oratorium "SauI" die beiden Persönlichkeiten; die Musik dort zeigt die Eigenthümlichkeit von Rembrandt's Auffassung, während das Bild hier von Händel gezeichnet sein könnte.

 

27. 10. Abends.

Meine theure Freundin! Welche Freude mir Ihr heute eingetroffener Brief machte! es liegt für mich in Ihrer Schreib- und Ausdrucksweise ein eigener Zauber und fühle ich mich bei Lesung Ihrer Gedanken so glücklich, dass ich da Niemanden eine Bitte abschlagen könnte. Ich kann und will mir die Zeit gar nicht denken, wo unser Verkehr aufhören wird - und kann mir (jetzt lachen Sie mich aus!) auch nicht denken, wie ich den vergangenen Winter ohne denselben sein konnte! - Vor Allem möchte ich meiner Freude Ausdruck geben, dass es Ihrem Patienten in Metz besser geht, und Ihre verehrte Frau Mutter dieser Sorge, die wegen einer nochmaligen Operation gewiss nicht gering war, gottlob enthoben ist! - Wenn Sie von Völderndorff "Jettele" genannt wurden, so finde ich das sehr gemüthlich, wie mir (als dem schwäbischen Volksstamm angehörend) das Alemannische von jung auf geläufig und anheimelnd ist. Ebenso war mir der Sprachton Ihrer Frau Mutter vom Hören des ersten Wortes an sympathisch. Bei Ihrem Sprechen (mir die schönste Musik!) fiel mir das Fehlen des Berlinismus von Anfang auf - wie Sie sehen, wurden Sie scharf beobachtet, und ist dabei zu bedenken, dass ich kaum 100 Worte von Ihren Lippen vernommen habe. - Sie fürchten, meine Frau sei vielleicht intolerant gewesen? Sie war ja in erster Ehe mit einem gut protestantischen Offizier (v. Hoffnaass) verheirathet, und lebte bis zu dessen Tode (gest. 1864) in tiefstem "konfessionellen Frieden" mit ihm - spricht das für Intoleranz? Mir gegenüber wird meine theure Freundin auch nicht an dem leider sehr verbreiteten Vorurtheil fest halten, dass ein aufrichtiger Katholik "intolerant" sein müsse, - und das wär' doch gar nicht schön von Ihnen, und etwas Nichtschönes ist von Ihnen gar nicht denkbar. Mich hat es herzlich gefreut, als ich Sie Sonntags in Kreuth Ihren Gottesdienst besuchen sah, denn ich achte jede religiöse Überzeugung ebenso hoch, als ich den Unglauben (nicht den Ungläubigen) tief verabscheue. Wir Christen verehren gemeinsam die Gottheit Christi als den Kern unserer Religion, und das ist die Hauptsache; konfessionelle Fragen sollen uns Beide in keiner Weise trennend berühren. Wenn Sie sich darüber nicht beruhigt fühlen, so bitte ich Sie herzlich, sich mir gegenüber freimüthig zu äussern, da ich Ihnen für jede Bethätigung Ihres Vertrauens dankbar bin; oder wissen Sie wohl jetzt noch nicht, wie unendlich hoch ich Sie schätze? - Es ist ja nicht Zufall, dass ich Sie nie bei Ihrem schönen Namen nannte; in Kreuth hatte ich es als zu vertraulich weder gewagt, noch Gelegenheit dazu gehabt und brieflich kam es mir auch zu familiär vor - aber vergessen werde ich diesen theuren Namen nie! -

Warum lieber 83 statt 80? Weil Sie dann (nach menschlichem Ermessen) um 3 Jahre später dazu kämen, sich zu verloben, womit natürlicherweise unser freundschaftlicher Verkehr zu Ende sein würde. Das ist die so einfache Lösung des Rätsels. - Sie schreiben, dass meine Briefe Sie immer traurig stimmen - das ist von mir ganz gewiss nicht beabsichtigt; ich schreibe an Sie, wie ich an einen vertrauten Freund schreiben würde, (wenn ich Einen hätte) einfach und wahr, wie mir eben um's Herz ist; und das ist leider nicht immer so harmonisch, wie Sie wohl glauben. Ich bin viel zu sehr Empfindungsmensch - der Anblick eines Armen auf der Strasse kann mich oft ganz unglücklich machen; meine lebhafte Phantasie malt mir dann die traurigsten Bilder aus! - Beiliegende vergilbte Blätter, die sich im Schreibtisch meiner Fr. fanden, sind Autographe des Verfassers des "Winteridyll"; sie waren (glaub ich) an seine Braut gerichtet und haben vielleicht für Sie graphologisches Interesse. Carl Stieler kam damals (1872 etwa) oft Abends herüber um seine Gedichte vorzulesen, da er viel auf Fanny's Urtheil hielt. - Ich bin noch ganz im Banne Ihres letzten Briefes; Manches zu beantwortende muss ich für's nächstemal aufsparen, da ich meine verehrte Freundin nicht zu lang auf diesen Brief warten lassen möchte - und doch bin ich wieder mit demselben nicht zufrieden. Ich fürchte immer da und dort, dass irgend ein Wort Ihnen weh thun könnte; und das beunruhigt mich dann, bis ich wieder Ihre Handschrift sehe - bin ich nicht recht thöricht? nun, Sie sagen es ja keinem Menschen!

Hugo Wolf war gewiss sehr poetisch veranlagt; er ging aber zu den "Modernen" über und seine Melodie erging sich zu sehr (nach meinem Geschmack) nur mehr in charakteristischer Deklamation. Er starb im Irrsinn und hat eigentlich erst durch sein tragisches Schicksal grösseres Interesse erregt. - Sie meinen vielleicht da und dort in der Ausdrucksweise Ihrer Briefe unverständlich gewesen zu sein. Das ist gewiss nicht der Fall, denn gerade Ihre treffende Ausdrucksweise hat mir von Anfang an imponiert. Das Wahrscheinlichere ist, dass mein Verständnis auf falscher Fährte war, wie z. B. in der Musik: wenn man die Noten zufällig in einem falschen Schlüssel liest und es dann keinen rechten Sinn geben will; man soll eben immer von der richten Voraussetzung ausgehen und nicht misstrauisch alles Mögliche herauslesen wollen. Es war mein, nicht Ihr Fehler. Verzeihung! Und nun, meine theure Freundin! leben Sie wohl - haben Sie Nachsicht mit dem bunten Durcheinander und denken Sie, dass dasselbe aus gutem, treuen Herzen kommt!

den 28. 10.
Wie immer Ihr
Jos. Rheinberger

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[1] «jenseits des Brenners» = «Ein Ferienausflug» von Franzisca von Hoffnaass (Rheinberger). Mit 9 Illustrationen. Würzburg und Wien, Verlag Leo Woerl. (0.])

[2] Das Porträt meiner Frau = wiedergegeben in Band VI.

[3] Rembrandt's Saul und David = <<David spielt Harfe vor Saul» Städelsches Kunstinstitut Frankfurt am Main S. 49/Z. 34: «Winteridyll» = «Ein Winter-Idyll» von Karl Stieler, Stuttgart 1885