Josef Rheinberger gratuliert seinem Bruder zum Namenstag und bittet um die Liechtensteiner Sagen


München, 28. Dezember 1882

 

Mein lieber David:

Da du jetzt fleissig, recht und gerecht im Land Liechtenstein regierst [1], so ist es nicht mehr als billig, dass ich Dir zu Deinem Namenstag Glück wünsche – dass Du diesen Glückwunsch gut aufnehmen wirst ist wohl selbstverständlich, denn alle Regierenden pflegen an Höchstderen Namenstagen huldvoll aufgelegt zu sein.

Christophorus ist am Christtag glücklich (ich darf wohl sagen „sehr glücklich“) vom Stapel gelaufen, und wir freuten uns dessen herzlich; auch im Leipziger Gewandhauskonzert am 7. Dezember machte das Werk bedeutendes Glück, was auf jenem hitzigen Boden was heissen will; ich war zur Direktion eingeladen, konnte aber schon des Hofdienstes beim Ritterfest am 8. Dezember nicht wohl abkommen.

Fanny hat dir wegen Sagen geschrieben: es wäre hübsch, wenn sich was machen liesse – denn merkwürdigerweise leben wir in einer Zeit, wo dieselben absterben – 20 oder 30 Jahre mehr – und sie sind auf immer verschwunden. Hierzulande werden sie durch Bücher lebendig erhalten, in Liechtenstein ist das aber nicht der Fall. Wenn sich etwas findet, was der Mühe des Aufzeichnens lohnt, so lasse Dich die kleine Plage nicht verdriessen. Es pressirt nicht und wäre doch immerhin hübsch, wenn ein Büchlein zu Stande käme. /…/

Ich bin sehr neugierig, wer in Vaduz Pfarrer wird [2], Wirf Dich doch recht ins Zeug, dass einmal ein ordentlicher hinkommt, und auch wo möglich ein jüngerer Mann, der noch geistiger Interessen als den Weinkrug hat. /…/

Regiere weise und gerecht in das neue Jahr hinein, wie einst Dein grosser Namensvetter im Lande Israel (d.h. bevor er der Frau des Urias [3] wegen töricht wurde) so, dass noch ferner Geschlechter Deine Regierungszeit als das goldene Zeitalter Leichtensteins preisen mögen.

Alles gute zum neuen Jahr!

Dein Dich liebender Bruder

Josef Rheinberger

München den 28.12.82.

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[1] vgl. S. 49/z. lf.
[2] Am 6. Dezember 1882 war der erste Pfarrer von Vaduz (vgl. Band IV, S. 161/z. 5f.), Joseph Erny, gestorben. Sein Nachfolger wurde Johann Baptist Büchel d. Ae. (1824-1907)
[3] 2. Sam. 11, 1-27.